Meinung

Warum die Zeitenwende mehr als eine Korrektur der Russlandpolitik ist

Wie muss eine neue Politik gegenüber Russland aussehen? Über diese Frage hat sich eine Debatte entzündet. Die von Olaf Scholz angekündigte „Zeitenwende“ erfordert aber, deutlich über das Verhältnis der beiden Staaten hinauszudenken.
von Dirk Bornschein · 26. Mai 2022
Zeitenwende – und dann? Wir müssen mehr hinterfragen als nur unser Verhältnis zu Russland.
Zeitenwende – und dann? Wir müssen mehr hinterfragen als nur unser Verhältnis zu Russland.

Der Überfall auf die Ukraine am „24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinentes“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung am 27. Februar. Seitdem hat diese Zeitenwende Einfluss auf immer mehr Bereiche unseres Lebens. Mittlerweile müssen wir uns nicht nur fragen, wie Deutschland und die Sozialdemokratie jetzt und nach dem Kriege zu Russland stehen werden.

Haben wir uns nicht zu lange an das Spiel gewöhnt, die Gegebenheiten hinzunehmen und über Wahlen im gelegentlichen Wechselspiel mal für mehr und mal für weniger Sozial-, Integrations- oder Umweltpolitik zu stimmen? Dabei basiert unser gewohnter Alltag auf einer hochsensiblen Architektur, dessen Fundamente nur sehr unzureichend verwurzelt sind in der öffentlichen Debatte.

Wie stark zurück zur Vorkriegsordnung?

Dann aber hat Putins Krieg die Realität entblößt und bereits erlahmten Debatten neuen Schub gegeben. Zunächst einmal zum Konflikt selbst: Unabhängig von der Frage, wieviele schwere Waffen nun geliefert werden, müssen wir uns der Frage widmen, inwieweit  wir Teile der Vorkriegsordnung wiedereinsetzen können, dürfen und sollten, um Russland nicht vollends in die Hände Chinas zu treiben? Das ist derzeit eine ausgesprochen unbequeme Frage.

Ein Artikel in der „Le Monde Diplomatique“ aus der Aprilausgabe dieses Jahres liefert uns eine erste Skizze von dem, was uns erwarten dürfte, wenn sich der Nebel des Kriegs lichtet: Ein schwaches Russland, in dem die Idee Eurasiens als neuer Schwerpunkt der Weltpolitik die Oberhand gewinnt und ein Punktegewinn für China, das im Begriff ist, die Umzingelung durch US-amerikanische Bündnissysteme weiter aufzubrechen. In der SPD wird diesbezüglich immer wieder betont, dass China ja auch nicht glücklich sei, wie sehr sich Russland selbst ausgrenze. Aber ist das wirklich so?

China wird gewinnen, nicht Russland

Denken wir an die künstlichen Inseln, mit denen China seine Hoheitsansprüche untermauert, den Boykott australischer Waren, um die Kritik an der Lage der Menschenrechte zu ersticken, die „neue Seidenstraße“, die mehr als Europa, vor allem Asien zu aktivieren gedenkt. Und jetzt ist Russland in diesen Einflussbereich geraten, eine hölzerne Atommacht, deren Rohstoffe wir mittelfristig aufgrund des Klimawandels teils ja sowieso nicht mehr wollen. Moskau wird diese umleiten müssen, jetzt eben noch schneller.

Dabei wird Russland – wenn überhaupt – vermutlich nur imperiale Territorialgewinne erzielen, tatsächlich gewinnen wird wohl China. Und Europa und die USA? Die müssen sich nun neu aufstellen. Die Frage ist aber, in welcher Beziehung die Europäische Union künftig zu den Vereinigten Staaten stehen sollte. Soll es eine Europäische Verteidigungspolitik neben der NATO geben und wenn ja, inwieweit? Wie können wir zumindest in Afrika für wirtschaftliche und soziale Entwicklung sorgen und reichen die Instrumente unserer Entwicklungszusammenarbeit dafür noch aus? Diese und viele andere Fragen stehen jetzt an.

Die Systemkonkurrenz braucht auch Selbstkritik

Was geht uns das alles an? So wie auch damals in Zeiten des Kalten Krieges eine erfolgreich ausgetragene Systemkonkurrenz braucht auch eine kluge Kooperation nach außen, zugleich aber auch eine gesellschaftliche Konsolidierung nach innen. Und in genau diesem Aspekt gibt es Grund zu erheblicher Sorge, denn die westlichen Demokratien befinden sich in ihrer Mehrheit in einem besorgniserregenden Zustand.

Besinnen wir uns zunächst auf einige der Umstände, die die westliche Welt groß gemacht haben: der Rechtsstaat, die zunehmende Orientierung hin zu individuellen Menschenrechte und – auch wenn auch mitunter unzureichend – die Kontrolle, die von freien und fairen Wahlen in einem national organisierten Staat ausgehen. Über die Jahrzehnte haben die herrschenden Regierungen dabei gelernt, die Leidensfähigkeit ihrer Bewohner*innen nicht überzustrapazieren. So wurde der Abbau des Sozialstaats in vielen Ländern auch nur scheibchenweise vollzogen.

Mit dem Siegeszug dessen, was manchmal etwas unscharf als Neoliberalismus bezeichnet wird, wurde zwar einerseits der Menschenrechtsdiskurs ungebrochen befördert, aber die Wirtschaft, ihre Ordnung und herrschenden Regeln wurden zunehmend den demokratischen Entscheidungen entzogen. Und so reden auch viele Linke heute mehr von individuellen als von sozialen und kollektiven Rechten. Die Globalisierung sorgte für unseren Wohlstand, zumindest jener der Export-orientierten deutschen Wirtschaft. Und weil die Löhne im globalen Vergleich dafür ziemlich hoch waren, wurden sie in den vergangenen Jahrzehnten gezügelt.

Trump war kein Zufall

In der Folge wuchs aber auch die Ungleichheit im Lande in immer neue Dimensionen. Und den Betroffenen blieb am Ende nur das Unwohlsein. Was es aber bedeutet, wenn die Verlierer*innen einer Gesellschaft sich im Parteiensystem nicht mehr repräsentiert, sich aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen fühlen und sich dann zeitweise selbst isolieren, das haben wir zum Beispiel vor Jahren beim Wahlsieg von Donald Trump in den USA erkennen müssen.

Die Demokratie wird auf diese Weise langsam und unsichtbar ausgehöhlt. Darum braucht man eine Diskussionskultur, die in der Lage ist, die Vielfalt der Meinungen zu repräsentieren und nicht vorschnell auszuschließen. Unsere Realität ist hingegen nicht selten von politischem Kampf bestimmt. Auch wenn die AfD derzeit schrumpft, schlittern beinahe überall um uns herum die politische Systeme von einer Krise zur anderen: Großbritannien, Frankreich, Spanien, Polen und natürlich auch die Europäische Union als solche.

Die Zukunft des Welthandels, Demokratie und des Multikulturalismus

Kommen wir auf Russland und zugleich auf China zurück und die Verwicklungen, die unser Verhältnis gerade zu diesem System mit sich bringt. Auf dem Rücken seiner Bevölkerung hat es gelernt, Kapitalismus vom Staat her zu denken und uns seinen riesigen Markt anzubieten, um im Gegenzug zu den kurzfristig schnellen Gewinnen für westliche Firmen Technologietransfer zu erreichen und eigene Exportmärkte zu erobern. Ist der Westen nun vom Osten abhängig oder ist es umgekehrt? Schon vor dem Krieg Russlands hat das Motto „Wandel durch Handel“ auch in anderen Weltregionen für Kopfschütteln gesorgt, natürlich ohne dass die Kritik in Europa und den USA angemessen beantwortet worden wäre. Als ein Beispiel kann dafür der Norden Zentralamerikas gelten.

Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass die Auslagerung der Produktionskapazitäten in die sich entwickelnden Länder aus Sicht des Nordens nur eine andere Form darstellt, Reichtümer zu schaffen und deren Verteilung zu organisieren. Es ist eine Form mit neuen Gewinnern und neuen Verlierern, die ein zurück in die Vergangenheit kaum möglich und sinnvoll erscheinen lässt. Dennoch zeigt die derzeitige Krise auf dem Getreidemarkt, zum Beispiel, dass wir neu abwägen müssen, wo uns sichere Lieferketten wichtiger sind, und wann die preiswerten. Im Rahmen der Theorie der komparativen Kostenvorteile haben sich viele von billigen Getreideimporten abhängig gemacht. Indien wird seine Exporte jetzt aber deutlich einschränken und die Ukraine kaum umsetzen können. Der Weltgetreidemarkt ist in Aufruhr. Muss also die Landwirtschaft ein geschützter Bereich bleiben, so wie auch die Halbleiter und viele andere essenzielle Rohstoffe und Güter? Inwieweit muss dies sein, ohne das generelle Prinzip des Welthandels aufzubrechen? Und wie soll man transnationalen Unternehmen und ihrer Macht Grenzen aufsetzen?

Und hier kommen wir in unserer Logik auf unsere Leidensfähigkeit und politische Resilienz zurück. Denn was uns in den demokratisch geprägten Staaten ehedem zu Wohlstand geführt hat, gerät in einer Welt geopolitischer Neuordnung an seine Grenzen. Auf der westlichen Seite die Rechte des und der Einzelnen und ein Staat, der diese zu garantieren hat, ohne dabei das Wirtschaftsystem in Frage stellen zu dürfen, weil es heute zunehmend als angesagt gilt,dass der Markt sich selbst reguliert. Und auf der anderen, der chinesischen, die wirtschaftspolitisch überaus erfolgreiche Entwicklungsdiktatur (Verzeihung für den plakativen Ausdruck). Auch hier begegnen wir plötzlich einem kritischen Ungleichgewicht. Wir müssen uns die Frage stellen, wie individualistisch wir sein wollen und wie kollektiv wir doch zu denken haben. Und in jedem Fall kommt erneut die Frage nach der Rolle des Staates in der Wirtschaft auf.

Globalisierung braucht Demokratie

Mittlerweile dürfte klar geworden sein, dass auch die Globalisierung mit der Demokratie in einem Verhältnis voller Spannung steht. Außerdem: Wer soll in Zeiten der Unordnung die Interessen der Bevölkerung vertreten, wenn nicht der nationale Staat? Die multilateralen Instanzen werden diese Rolle kaum mehr übernehmen können. Die Vereinten Nationen stecken in der schwersten Krise seit ihrer Gründung. Putins Krieg hat es jedem gezeigt, dass der Sicherheitsrat mittlerweile vollkommen blockiert und handlungsunfähig geworden ist.  Noch klarer wird das Spannungsverhältnis bei den bereits angesprochenen Interaktionen zwischen der Wirtschaft, in der wir leben und der demokratischen Teilhabe.

Wo sind allerdings die Studien, die diese Begriffspaare genauer unter die Lupe nehmen? Denn leider ist auch die akademische Forschung Interessen-geleitet und produziert Wissen meist nur für diejenigen, die sich von deren Finanzierung etwas versprechen. Akademiker*innen fragen sich inzwischen viel zu selten, welche Themen grundlegend erforscht werden sollten. Stattdessen ist die erste Frage, jene nach den Interessen des Geldgebers.

Die Debatte muss Fahrt aufnehmen

Die Liste der Baustellen unserer demokratischen Systeme und unser aller Weltarchitektur ist besorgniserregend lang geworden. Welche Globalisierung müssen wir uns leisten, welche sollten wir vermeiden und welche Punkte langsam anpassen? Und immer wieder stellt sich die Frage, wem der Staat und seine demokratischen Strukturen in diesen Zeiten dienen sollen.

Wir brauchen mehr interne Konsolidierung, kein Zurück zur Nation, aber auch keine unreflektierte Integration in eine globale Welt, die von Konflikten und Konkurrenz geprägt ist. Lasst uns darüber reden, auch wenn es weh tut und lange dauern wird. Und vor allem, lasst uns daran denken, dass keines dieser Themen für sich stehen kann. Jede Zeitenwende bringt es auch mit sich, dass nicht hinterfragte Glaubenssätze plötzlich als solche erkannt werden müssen, nämlich als Ideologie. Das geht uns allen so. Zu Anfang gibt es Abwehrreflexe. Hauptsache es gelingt, nicht bei diesen stehen zu bleiben. Was am Ende eines ernsthaften Reflektionsprozesses sein wird, das wissen wir derzeit alle noch nicht. Aber die Themen sind gesetzt. Was (Sozial-) Demokratie heute bedeuten muss, das sollte nicht mit schnellen Korrekturen überdeckt werden.

Autor*in
Dirk Bornschein

ist Politologe, Gründer und langjähriger Koordinator des Programms „Migration und Entwicklung“ der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (FLACSO), Guatemala. Er ist Mitglied im Fachausschuss für Internationale Politik, Frieden und Entwicklung der SPD Berlin.

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