Meinung

Warum die SPD kraftvolle wirtschaftliche Ideen braucht

Die Sozialdemokratie darf den Unmut über zunehmende soziale Ungerechtigkeit nicht den Rechten überlassen, fordert Sheri Berman. Die Antwort darauf müsse eine Sozialdemokratie sein, die die negativen Auswirkungen des Kapitalismus mildere.
von Sheri Berman · 16. Juli 2019
Vor dem Reichstag in Berlin: Kapitalismuskritiker auf der Schüler-Demo „FridaysForFuture“ am 28. Juni 2019
Vor dem Reichstag in Berlin: Kapitalismuskritiker auf der Schüler-Demo „FridaysForFuture“ am 28. Juni 2019

Im ausgehenden 20. Jahrhundert verschoben die sozialdemokratischen Parteien in ganz Europa ihren wirtschaftspolitischen Kurs. Konsequenzen des Neoliberalismus, wie die Deregulierung der Märkte oder Kürzungen in den Sozialschutzsystemen, wurden in Kauf genommen. Diese Verschiebung führte zu einschneidenden und unvorhergesehenen langfristigen Folgen. Sie veränderte das langjährige politische Profil der Linken.

Populismus profitiert von sozialen Spaltungen

Nach 1945 erklärte die Sozialdemokratie, der demokratische Staat könne die negativen Auswirkungen des Kapitalismus mildern und gleichzeitig dessen positive Aspekte stärken. Dadurch wäre es möglich, sowohl Wachstum als auch soziale Gleichheit zu sichern. Nachdem sich die Sozialdemokratie von dieser Sichtweise weitgehend verabschiedet hatte, war sie nicht mehr in der Lage, den Unmut aufzufangen, der sich angesichts zunehmender wirtschaftlicher Ungleichheit und Unsicherheit sowie sozialer Spaltungen breit machte, die infolge der Marktliberalisierung entstanden waren.

So entstand eine einmalige Chance für eine neue, kühn auftretende politische Kraft: den Populismus. Die meisten rechtspopulistischen Parteien sind in den späten 70er und 80er Jahren entstanden. Damals zielten sie auf eine konservative Wirtschaftspolitik ab. Angesichts der Verschiebung der wirtschaftspolitischen Ausrichtung der Sozialdemokratie und einer zunehmenden Unzufriedenheit mit dem Neoliberalismus gab es für die Rechtspopulisten gute Gründe für einen Kurswechsel.

Frankreich unter Le Pen als Vorreiter

Das erste Land, in dem sich ein solcher Wandel erfolgreich vollzog, war Frankreich. Der Front National von Jean-Marie Le Pen stand ursprünglich für eine konservative Politik mit niedrigen Steuern und geringem staatlichen Einfluss. Le Pen brüstete sich sogar damit, er hätte sich für von Reagan und Thatcher vertretene Grundsätze schon eingesetzt, bevor diese sie propagierten. Unter der Führung seiner Tochter Marine Le Pen setzte sich die Partei jedoch für Protektionismus, staatliche Intervention und ein System der sozialen Sicherheit ein.

Eine ähnliche Transformation lässt sich bei der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) feststellen. Die Partei, die ursprünglich liberalen Verfechtern eines freien Marktes und ehemaligen Nazis eine Heimat bot, trat später für einen chauvinistischen Sozialstaat ein. In Dänemark wurde die Fortschrittspartei der 70er Jahre, die sich gegen staatliche Eingriffe und Steuern wandte, durch die dänische Volkspartei ersetzt, die für den Wohlfahrtsstaat plädiert. Ähnliche Beispiele finden sich bei anderen populistischen Parteien.

Neue Spielräume für die Rechten

Die Verschiebung der wirtschaftspolitischen Ausrichtung seitens der Linken hat den Populisten nicht nur den nötigen Spielraum verschafft, die zunehmende wirtschaftliche Unzufriedenheit aufzugreifen, sondern deutlich gemacht, wie wichtig soziale Belange sind. Nach der Annäherung linker und rechter Wirtschaftspolitik setzten die Parteiführungen verstärkt auf nicht wirtschaftliche Themen und diese standen auch stärker im Blickfeld der Wähler. 

Obwohl diese Verschiebung sowohl bei den Linken als auch bei den Rechten erfolgte, können gerade die populistischen Rechten – aber auch Parteien wie die Grünen – am meisten davon profitieren, denn sie können ihre Wähler eher durch soziale als wirtschaftliche Themen an sich binden. Vor dem wirtschaftlichen Kurswechsel war die Attraktivität rechtspopulistischer Parteien für Wähler mit niedrigem sozioökonomischem Status und eher linksgerichteten wirtschaftlichen Präferenzen begrenzt, selbst wenn diese Wähler auch konservative gesellschaftliche Ansichten vertraten.

Sobald die Populisten jedoch ihre wirtschaftliche Ausrichtung geändert hatten, mussten sich diese Wähler nicht mehr zwischen ihren wirtschaftlichen und sozialen Präferenzen entscheiden. In vielen europäischen Ländern sind populistische Parteien heute die größten Parteien der Arbeiterklasse. Parteien haben Erfolg, wenn die Themen, bei denen sie sich gute Chancen ausrechnen können, im Vordergrund der politischen Debatte stehen. Populisten stehen gut da, wenn der Schwerpunkt auf die Einwanderung gerichtet ist, und grüne Parteien sind erfolgreich, wenn die Umwelt im Mittelpunkt steht. Das ist der Grund, warum erstere Zuwanderer verteufeln und letztere eine bevorstehende Apokalypse der Umwelt betonen.

Kapitalismuskritik ist nötig

Die Sozialdemokratie war in der Vergangenheit erfolgreich, wenn der Schwerpunkt auf die negativen Aspekte des Kapitalismus und unregulierter Märkte gelegt wurde, vorausgesetzt, sie hatte andere und überzeugende Antworten auf diesem Gebiet zu bieten. Die eigene Analyse der SPD zu ihren Wahlverlusten 2017 „Aus Fehlern lernen“ macht deutlich, dass zwar eine Mehrheit der Deutschen soziale Gerechtigkeit als wichtig betrachtet, viele die Politik der SPD zu diesem Thema jedoch nicht als klar oder überzeugend empfanden.

Die politische Zukunft wird stark davon abhängen, wie erfolgreich grüne, populistische, sozialdemokratische und andere Parteien die Themen, von denen sie profitieren, in den Mittelpunkt der politischen Debatte rücken können. Wenn die Sozialdemokratie eine Zukunft haben soll, muss sie sich wieder den wirtschaftlichen Problemen unserer Gesellschaften zuwenden und die Wähler davon überzeugen, dass sie die besten Lösungen für diese Probleme ­parat hat. 

Der Text wurde übersetzt von Stefan Gabriel.

Autor*in
Sheri Berman
Sheri Berman

Sheri Berman ist Professorin für Politikwissenschaft am Barnard College der Columbia University. Ihr jüngstes Buch erschien unter dem Titel „Democracy and Dictatorship in Europe. From the Ancien Regime to the Present Day“.

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