Warum die SPD eine neue Vorstellung von Fortschritt braucht
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Das hohe Lied des Fortschritts ist von jeher Teil linker politischer DNA. „Mit uns zieht die neue Zeit“, sangen sozialdemokratische Parteitage über Jahre. Und: „Hell aus dem dunklen Vergangnen leuchtet die Zukunft hervor.“ Weltweit ist das Bekenntnis zum Fortschritt links der Mitte so verbreitet, dass eine ganze Reihe von linken Parteien mehr oder weniger formal als „fortschrittliche“ oder „progressive“ Bewegungen firmieren.
In den Programmen linker Parteien ist das Ziel des Fortschritts angesichts der tiefen ideengeschichtlichen Wurzeln des Konzepts fest verankert. Die Schweizer Sozialdemokrat*innen etwa bezeichnen sich als „die wichtigste Kraft für Fortschritt“. In Österreich stellt sich die Sozialdemokratie programmatisch „an die Spitze des Fortschritts“. In Frankreich wirbt die Sozialistische Partei für den „menschlichen Fortschritt in allen Dimensionen“ und in den USA dient das Label „progressiv“ zunehmend als Fremd- und Selbstbezeichnung der Demokraten. International firmiert ein Bündnis linker Parteien ganz offiziell als „Progressive Allianz“.
Fortschritt in der Transformation
Auch die deutsche Sozialdemokratie beginnt ihr „Hamburger Programm“ nicht zufällig mit dem Begriff des Fortschritts. „Dieses Jahrhundert“, so heißt es dort „wird entweder ein Jahrhundert des sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Fortschritts oder es wird ein Jahrhundert erbitterter Verteilungskämpfe und entfesselter Gewalt.“ Und der Koalitionsvertrag der Regierung Scholz trägt den Titel „Mehr Fortschritt wagen“.
Dunkle Vergangenheit, leuchtende Zukunft? Doch was, wenn heute nicht mehr die Vergangenheit, sondern vielmehr die Zukunft im Dunkel zu liegen scheint? Welche Rolle kann die Idee des Fortschritts in einer Zeit spielen, in der Transformation den Nimbus der Verheißung in weiten Teilen eingebüßt hat?
Fortschritt wird heute als Bedrohung wahrgenommen
Das Beschwören des Fortschritts in linker Politik steht in einem immer größeren Wiederspruch zu der Bewertung von Fortschritt in westlichen Gesellschaften insgesamt. Denn Wandel, Fortschritt und die Idee einer zukunftsgerichteten Transition werden vielerorts zunehmend negativ bewertet.
In einer aktuellen Umfrage des Allensbach Instituts bewerten gerade einmal 32 Prozent der Deutschen den Fortschritt als positiv. In den 1970er Jahren war dieser Anteil doppelt so hoch. Auch in den USA vertraut nur ein gutes Drittel der US-Bürgerschaft noch darauf, die nächste Generation werde es einmal besser haben. In der Europäischen Union insgesamt liegt der Anteil der Menschen, die hoffnungsvoll in die Zukunft blicken, gerade einmal bei 28 Prozent.
Unsere Vorstellung von Fortschritt muss sich ändern
Als Reaktion auf diese Entwicklung ist links der Mitte immer wieder der Vorschlag zu hören, der Fortschritt müsse durch ein umso engagiertes Erklären und Bewerben offensiver vermittelt werden.
Linke Politik müsse endlich wieder Zuversicht vermitteln und die Möglichkeiten des Fortschritts auch all jenen schmackhaft machen, die sich aus Verzagtheit vom Optimismus abwenden. Für manche Parteistrategen mag das attraktiv erscheinen. Schließlich sind Kommunikationsschwierigkeiten stets leichter zu korrigieren als inhaltliche Fehlpositionierungen. Und sicher spricht nichts dagegen, Politik mit der Aussicht auf Verbesserung zu verbinden und konkrete Machtwechsel mit den Chancen des Aufbruchs.
Doch muss mit einem Altbundespräsidenten gesprochen wirklich schlicht „ein Ruck gehen“ durch unser Land? Ein Ruck, der die Idee der Transformation von Zweifeln befreit? Nein, verändern muss sich nicht der Blick auf den Fortschritt, sondern unsere Vorstellung von ihm.
Ein Appell für mehr Zuversicht reicht nicht
Denn das gesellschaftliche Unbehagen mit ungebremstem Fortschritt ist weiten Teilen durchaus nachvollziehbar. Tatsächlich dürfte jede nüchterne Bestandsaufnahme des real-existierenden Fortschritts zu dem Schluss kommen, dass die Zukunftsskepsis westlicher Öffentlichkeiten in vielen Punkten nur allzu gerechtfertigt ist:
Kriegsgefahr, Inflation, Ungleichheit, das drohende Ende der Arbeit, digitaler Totalitarismus, Kryptowährungen, Artensterben, Pandemien, Vereinzelung, das Metaverse, autonome Waffensysteme, die Erderhitzung: Das sind die konkreten Zukunftsperspektiven, denen sich unsere Gesellschaften ausgesetzt sehen.
Fortschritt, Wandel und Transformation, wie sie gerade von Teilen der nicht bessergestellten Milieus westlicher Demokratien tagtäglich erlebt und für die Zukunft erwartet werden, sind damit das ziemlich exakte Gegenteil eines gesellschaftlichen Versprechens. Diese Sorgen nun schlicht mit dem Appell zu mehr Zuversicht zu beantworten, ist wenig überzeugend.
Die Diskreditierung des Fortschritt-Begriffs
Zur Komplexität der Lage gehört dabei auch die gerade für Mitte-Links-Parteien schmerzhafte Einsicht, dass es zumindest in Teilen auch ihre Politik gewesen ist, die zur Diskreditierung des Fortschritts unbeabsichtigt beigetragen hat. Schließlich wurde das Narrativ der Modernisierung gerade von den sogenannten fortschrittlichen Kräften im neoliberalen Jahrzehnt der linken Mitte immer wieder dafür verwendet, marktkonforme Basta-Reformen gegen sehr gerechtfertigte Widerstände durchzusetzen.
Doch wenn sich für weite Teile linker Wähler*innenschichten Politik in der Vergangenheit als durchaus fehlgeleitet erwiesen hat, muss rätselhaft bleiben, welches progressive Simsalabim nun bezogen auf die Zukunft für ungebrochenen Optimismus sorgen soll. Zumal eine Mehrheit in vielen westlichen Gesellschaften der Politik insgesamt die Lösung brennender Fragen ja gar nicht mehr zutraut.
Für viele Menschen dürften undifferenzierte Apelle des Aufbruchs in dieser Ausgangslage deshalb nicht unbedingt für Enthusiasmus sorgen, sondern eher den Eindruck der Entkoppelung der Politik befördern. Und das selbst dann, wenn der Fortschritt durch die Beteuerung ergänzt wird, dass bewahren heute nun einmal verändern bedeute.
Eine generelle Absage an die Idee des Fortschritts wäre falsch
Ist eine der Ursachen für die häufig schwachen Wahlergebnisse von Mittelinksparteien heute mittlerweile womöglich auch darin zu finden, dass sich der Zukunftsoptimismus der „fortschrittlichen“ Parteien nicht mehr mit den Befürchtungen der gesellschaftlichen Mehrheiten deckt?
Sicher, die Wirklichkeit ist komplexer. Und tatsächlich wäre eine generelle Absage an die Idee des Fortschritts verfehlt. Denn natürlich gilt auch: In der Makroperspektive ist gesellschaftlicher Fortschritt real und zudem historisch gerade von Kräften der linken Mitte erwirkt worden.
Nicht nur rechtliche Rahmenbedingungen und Wohlstandsverteilungen, auch Normen und Werte haben sich durch Einsatz der politisch linken Bewegungen historisch betrachtet massiv zum Besseren gewandelt. Medizinische Erfolge lassen die Lebenserwartung steigen und technische Neuerungen ermöglichen bahnbrechende Verbesserungen für Mensch und Umwelt. Kurzum: Die Welt unserer Großeltern war nüchtern betrachtet sicher keine bessere – von historischen Urahnen ganz zu schweigen.
Nostalgie hilft uns nicht weiter
Deshalb geht es nun nicht darum, die Idee des Fortschritts insgesamt dem politischen Gegner zu überlassen. Noch gefährlicher wäre es, den Glauben an den Fortschritt nun durch die Verklärung einer vermeintlich idyllischen Vergangenheit zu ersetzten. Wir brauchen keine Restauration und auch der „vorwärts“ benötigt sicher keine Umbenennung in „rückwärts“.
Doch sozialdemokratische Kräfte sollten sich in ihrer Reaktion auf die verbreitete durchaus nicht illegitime Zukunftsskepsis eben nicht darauf beschränken, Unbehagen mit Wandel als fehlgeleitete Nostalgie abzutun und mit der Verkündigung von noch mehr Wandel zu beantworten.
Im Gegenteil: Es gilt, unaufhaltsame Entwicklungen gerade für all die Menschen abzufedern, die von ihnen nicht profitieren und zugleich dort steuernd einzugreifen, wo unerwünschter Wandel reguliert werden kann. Als Sozialdemokratie brauchen wir deshalb nicht nur Zuversicht in unsere Gestaltungsmöglichkeiten, sondern auch Temposchwellen des Wandels, die als brachial empfundene Entwicklungen entschärfen. In Anlehnung an den französischen Präsidenten Emanuel Macron könnte man sagen, wir benötigen einen Fortschrittsbegriff, der schützt. Eine Fetischisierung des Fortschritts an sich aber leistet dazu eben keinen Beitrag.
Neues anstreben, Bewährtes bewahren
Anzustreben wäre eine Versöhnung zwischen dem Einsatz für ein besseres Morgen und dem Bewahren von Errungenschaften, die nicht zuletzt linke Wähler*innenschaften für besonders schützenswert erachten: Arbeit, Würde, Rechtstaatlichkeit, diskriminierungsfreie Gleichberechtigung, Zusammenhalt in Familie und Gesellschaft, Solidarität, das Aufstiegsversprechen der Sozialen Demokratie und ja, eine lebenswerte und vertraute Heimat und Umwelt.
All das sind Werte, die den Kern eines wohlverstandenen sozialdemokratischen Bewahrens ausmachen. Denn Fortschritt als Selbstzweck ist eine leere Schablone und war deshalb aus guten Gründen nie ein Grundwert der Sozialen Demokratie. Fortschritt war und ist stets nur Mittel zur Erreichung weiter gesteckter Ziele.
Nicht nur aus taktischen Gründen, sondern weil es um sozialdemokratische Kernwerte geht, ist es deshalb angeraten, nicht nur das auszubuchstabieren, was sich ändern, sondern auch was sich eben gerade nicht ändern soll.
Gerade die Tatsache, dass dies in der aktuellen Debattenlage als ketzerisch erscheint, sollte der Sozialen Demokratie zu denken geben. Denn die Blindheit gegenüber einer Tradition des Bewahrens ist in letzter Konsequenz Blindheit gegenüber den eigenen geschichtlichen Erfolgen.
„Es gibt viel zu verteidigen.“
Schon Tony Judt verweist in seinem letzten großen Werk darauf, dass sich gerade die politische Linke in einer unübersichtlichen Moderne auch – wohlverstanden – als konservative Bewegung verstehen müsse. Nämlich als Protektor der sozialdemokratisch erkämpfen Errungenschaften, die in einer globalisierten Welt eben keineswegs selbstverständlich sind. „Es gibt viel zu verteidigen“, schreibt Judt. Er hat Recht. Und über viele Jahre hat die Soziale Demokratie das auch durchaus intuitiv begriffen.
Über Jahrzehnte verstanden sich schließlich gerade linke Bewegungen nicht nur als gesellschaftliche Avantgarde, sondern auch und gerade als Schutzmacht der Benachteiligten.
Diese Rolle aber ist es, die sich heute zunehmend rechtspopulistische Bewegungen anmaßen. In den entwickelten westlichen Demokratien ist es mittlerweile fast schon ein Ausnahmefall, wenn benachteiligte soziale Schichten ihr Wahlkreuz bei der politischen Linken, machen. In den Vereinigten Staaten, in Frankreich aber auch in Teilen der Bundesrepublik sind weite Teile der Wählerschaft von der linken Mitte nicht nur verloren, sondern geradezu strategisch vernachlässigt worden. Zu zahlenmäßig unbedeutend, zu passé. Und manchmal wohl auch vermeintlich störend in der Weigerung, auf ein sich drastisch änderndes Land anders zu reagieren als mit einem „Und ich freue mich darauf!“
Die Politik des „Respekts“ als Gegenentwurf
In Deutschland hat der zurückliegende Bundestagswahlkampf unter dem Begriff des „Respekts“ hier bereits eine völlig neue Tonalität gefunden. Denn Respekt ist vieles aber auch der Gegenentwurf zu einer Politik, die Befürchtungen und Sorgen nur dann wahrnimmt, wenn diese den Legitimitätstest gesellschaftlicher Eliten bestehen.
In Zeiten immer tiefgreifender Verwerfungen sollte es deshalb jetzt darum gehen, den Ansatz des Respekts gemeinsam mit der Idee des Fortschritts zu denken und das Progressive um eine Dimension des Bewahrens zu ergänzen.
Linke Kräfte in Europa haben eine vergleichbare Entwicklung fort von eindimensionalem Zukunftsoptimismus in der Klimakrise längst vollzogen. Sie zählen zu den Stimmen, die das Einstehen für ein ökologisches Gleichgewicht als ein wohlverstandenes linkes Bewahren sehr viel ernster nehmen als die politische Rechte. Daran ließe sich anschließen. Und auch bezogen auf die internationale Politik sind gerade linke Kräfte gut damit beraten sind, die regelbasierte Weltordnung vor weiteren Verwerfungen zu schützen und erreichte zivilisatorische Standards gerade in der Zeitenwende zu verteidigen. Auch hier ist das Bewahren faktisch längst gute – linke – Politik.
Klar ist: Das Engagement für ein besseres Morgen bleibt entscheidend. Zugleich aber sollte gerade die Soziale Demokratie selbstbewusst bekennen, dass sie eben nicht nur für die „neue Zeit“ eintritt, für Wandel, Transformation und Fortschritt, sondern auch für all das Schützenswerte der alten.
leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in New York und ist Mitglied der SPD-Grundwertekommission. Zuletzt erschien vom ihm „Vom Ende der Freiheit. Wie ein gesellschaftliches Ideal aufs Spiel gesetzt wird“ (Dietz 2021).