Meinung

Warum die „Migrationskrise“ eine Solidarititätskrise ist

Nach dem Brand von Moria sollte es eine europäische Lösung für die Migrationsfrage geben. Die kommt jedoch nicht voran. Die Menschen an den Außengrenzen brauchen aber jetzt Hilfe. Vorschläge liegen genug auf dem Tisch.
von Ferike Thom · 24. Mai 2021

Die Lage an den EU-Außengrenzen ist erschreckend. Menschen fliehen vor Krieg, Verfolgung und Armut und hoffen auf ein besseres Leben für sich und ihre Familien in der EU. Und die EU, die selbst so stolz auf den Frieden und Wohlstand ist, den sie ihren Bewohner*innen bietet, lässt diese Menschen im absoluten Elend an ihren Außengrenzen hausen – und das über Jahre. Egal, welche neue Katastrophe sich an den Außengrenzen ereignet – die Entscheider*innen in der EU zeigen sich unbeeindruckt, die Diskussion um eine „europäische Lösung“ kommt nicht voran. Das Elend hält an.

Bekanntes Elend an den europäischen Grenzen

Wir haben allein im vergangenen Jahr Berichte von gewalttätigen Push Backs durch die europäische Grenzsicherungsagentur Frontex und die nationalen Sicherheitsbehörden auf See und an Land gesehen. Push Backs, also das das gewaltsame Zurückdrängen von Geflüchteten widersprechen dem Völkerrecht, trotzdem geschehen sie. Für die Verantwortlichen sind sie weitgehend ohne Konsequenz geblieben. Die Bundesregierung behinderte zuletzt die uneingeschränkte Aufklärung der Vorwürfe, indem sie sich gegen die Einsetzung einer diesbezüglichen Arbeitsgruppe wandte.

Derweil verschlechtern sich die Lebensumstände in den Flüchtlingslagern Moria und Lipa weiter drastisch. Während die wärmeren Sommermonate die Berichterstattung auf andere aktuelle Problemlagen (Pandemie, Bundestagswahl) richten, ist absehbar, dass uns mit dem einbrechenden Winter 2021 die ebengleichen Bilder vom Elend vor Ort erreichen wie schon Ende 2020 – und in all den Jahren zuvor. Kurz vor Weihnachten werden viele Abgeordnete abermals schriftlich zu mehr Solidarität und Barmherzigkeit aufrufen – dieser Aufruf wird ebenfalls wieder in Untätigkeit versanden.

Die EU-Kommission und die Mitgliedsstaaten sehen diese sich wiederholenden Geschehnisse jedes Jahr – und unternehmen nichts.  

Blockaden auf allen Ebenen

Die Diskussion um eine europäische Lösung hält nun schon ewig an, aber sie kommt nicht voran. Die Menschen an den Außengrenzen brauchen aber jetzt Hilfe und haben auch ein Recht darauf, diese schnell zu bekommen. Ein deutscher Alleingang um der humanitären Hilfsverpflichtung nachzukommen, wird von den Koalitionspartnerinnen CDU und CSU blockiert.

Die marginalen vermeintlichen Kompromisse, zu denen sich die Union im Koalitionsvertrag und Koalitionsausschuss bereit zeigten, sind beschämend. Aber sie blockiert nicht nur auf Bundesebene die Aufnahme Geflüchteter, sondern stellt sich auch in den Weg, wenn einzelne Bundesländer und Kommunen Menschen aufnehmen wollen.

Mehr als 200 Städte wollen helfen, dürfen aber nicht

Und davon gibt es viele: Neben Niedersachsen, Berlin, Bremen, Hamburg, Thüringen und Schleswig-Holstein haben sich mehr als 200 Städte in Deutschland zu sogenannten Sicheren Häfen erklärt und wollen Geflüchteten ein sicheres Zuhause bieten. Und das ist auch rechtlich möglich: Im Aufenthaltsgesetz des Bundes steht, dass die Bundesländer eigene Landesaufnahmeprogramme definieren können. Dabei müssen sie benennen, welche Gruppen sie konkret aufnehmen wollen. Berlin, Thüringen und Bremen haben das getan.

Allerdings müssen diese Landesaufnahmeprogramme „im Einvernehmen mit dem Bundesinnenministerium“ erfolgen und hier blockiert Bundesinnenminister Horst Seehofer. Alle drei Landesaufnahmeprogramme wurden mehr oder weniger mit den gleichen vorgeschobenen bürokratischen und verwaltungstaktischen Argumenten abgelehnt. Dahinter steckt aber nur die menschenfeindliche Position eines Mannes, der sich darüber freute, dass an seinem 69. Geburtstag 69 Geflüchtete in ihr für sie lebensgefährliches Herkunftsland Afghanistan abgeschoben wurden.

Rot-rot-grüne Länder kämpfen weiter für die Aufnahme Geflüchteter

Berlin und Thüringen haben im Herbst vergangenen Jahres eine Bundesratsinitiative gestartet, um den entsprechenden Gesetzestext so zu ändern, dass der Bundesinnenminister über die Landesaufnahmeprogramme nur noch informiert werden muss, jedoch kein Veto-Recht mehr hat. Diese Initiative wurde im Bundesrat jedoch abgelehnt.

Im Januar 2021 hat das Land Berlin nun Klage eingereicht gegen das Bundesinnenministerium. Es geht vor allem um die Auslegung des entsprechenden Paragrafen (§23 Abs. 1 AufenthG): Das Land Berlin vertritt die Position, dass das Bundesinnenministerium sein Einvernehmen zur Aufnahme von Geflüchteten durch Landesaufnahmeprogramme nicht einfach so vorenthalten kann, sondern diese Ablehnung begründet sein muss. Dazu reichen auch keine bürokratischen Ausreden.

Die Menschen können nicht warten

Auch die SPD-Bundestagsfraktion hat sich in dieser Frage hinter das Land Berlin gestellt, und ist selbst aktiv geworden: Sie fordert eine Gesetzesänderung, welche das Bundesinnenministerium dazu zwingen würde, jede Einvernehmensverweigerung binnen vier Wochen zu begründen.

Diese Initiative zur Gesetzesänderung ist dringend notwendig, auch weil es mindestens ein Jahr dauern wird, bis die Klage behandelt wird. Solange können die Menschen an den Außengrenzen nicht warten. Sie brauchen umgehend Hilfe und müssen aus den Lagern raus und in ein sicheres Zuhause gebracht werden.

Es geht nicht um Migration, sondern um Solidarität

Die Obergrenzen- und Kontingentkompromisse, die mit der Union in der Regierung machbar waren, sind beschämend gering. Aktuell werden aber sogar diese weit unterschritten und noch weniger Geflüchtete aufgenommen, als eigentlich vereinbart. Das muss bis zum Ende der Legislaturperiode unbedingt nachgeholt werden!

Natürlich wäre eine vereinte europäische Lösung, bei der die Länder an den Außengrenzen nicht länger allein gelassen werden und in der Geld statt Menschen umverteilt werden, richtig. Doch wir warten schon seit Jahren auf diese Lösung; es zeichnet sich kein Vorankommen ab. Ein Negativbeispiel sind die dänischen Genoss*innen, die sich beim Abschottungswettbewerb mit Orbán und Co. in der zunehmend uneinnehmbaren Festung Europa den ersten Platz sichern wollen. Ihre Zielvorgabe: Null Asylanträge in ihrem Land. Es wird Zeit, auf andere Wege setzen.

Die „Migrationskrise“ ist in Wirklichkeit eine Solidarititätskrise

Die dezentrale Aufnahme von Geflüchteten direkt durch die Kommunen muss auch auf europäischer Ebene Praxis werden. Nach Jahren der Blockaden, gerade durch einzelne rechtskonservative und migrationsfeindliche Nationalregierungen, ist dies der einzige Weg, europäischer Solidarität in dieser Frage wenigstens ein Stück näherzukommen.

Denn die sicheren Häfen gibt es nicht nur in Deutschland: Europaweit haben sich viele Kommunen zu sicheren Häfen erklärt und wollen Menschen in Not ein Zuhause bieten – auch in Staaten, die sich entschieden dagegen positionieren.

Die vielbeschworene „Migrationskrise“ ist nämlich in Wirklichkeit eine Solidarititätskrise. Eine Koalition der Willigen (Städte und Kommunen) zeigt, dass es progressive Wege gibt, den Herausforderungen zu begegnen, statt sich weiter nach rechts zu bewegen. Migration ist ein kontinuierlicher Prozess. Die SPD muss vorangehen und zeigen, dass es in der Verantwortung der Sozialdemokratie liegt, sich Freiheit und Gerechtigkeit nicht nur auf die Fahne zu schreiben, sondern durch eine humane Asyl- und Migrationspolitik ein gutes Leben für alle zu ermöglichen.

Autor*in
Ferike Thom

ist stellvertretende Bundesvorsitzende der Jusos.

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