Meinung

Warum Deutschland besondere Verantwortung für eine starke EU hat

Die Corona-Pandemie stellt die Europäische Union vor eine der größten Herausforderungen seit ihrer Gründung. Wir müssen die Einigkeit nach innen stärken und die EU gezielt weiterentwickeln. Beides erfordert politschen Mut.
von Olaf Scholz · 16. Dezember 2020

Europa ist unser wichtigstes nationales Anliegen. Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten darf dies kein Satz für Sonntagsreden sein. Wir müssen ihn als konkreten Handlungsauftrag verstehen. Nur ein gemeinsam handelndes Europa sichert unsere Eigenständigkeit im 21. Jahrhundert. Die Sicherung und das Eintreten für unseren freiheitlichen Lebensstil in einer ungemütlicher werdenden Welt – das ist heute der Auftrag an Europa.

Eigenständigkeit macht stark

Die Eigenständigkeit Europas stellt uns vor eine doppelte Herausforderung: Wir müssen die Einigkeit nach innen stärken. Ein Europa im Streit ist ein Europa in Selbstbeschäftigung. Und wir müssen die EU gezielt dort weiterentwickeln, wo sie heute zu verletzlich ist und unserem Anspruch an Eigenständigkeit nicht genügt. Beides verlangt politischen Mut, den wir gerade in der Krise bewiesen haben: Die Corona-Pandemie stellt die EU vor eine der größten Herausforderungen seit ihrer Gründung. Es bestand die akute Gefahr, dass sich ökonomische und soziale Spaltungen vertiefen, dass Misstrauen zwischen unseren Ländern entsteht und daraus folgender Populismus und ­Nationalismus das europäische Einigungswerk gefährden.

Anders als in der Finanzkrise vor zehn Jahren haben wir nicht ängstlich zugewartet, sind nicht auf roten Linien gewandelt, sondern beherzt neue Wege gegangen: Wir haben die historische Entscheidung zu einem gemeinsamen Wiederaufbauprogramm mit gemeinsamen Finanzmitteln getroffen, das mit 750 Milliarden Euro in Art und Umfang einmalig ist, weltweit Anerkennung findet und das gezielt für Investitionen in die ökologische und digitale Transformation der europäischen Volkswirtschaften eingesetzt werden wird. Was kurzfristig die Länder Europas stabilisiert hat, wird langfristig der Ausgangspunkt fiskalischer europäischer Souveränität sein. Hierzu müssen wir bereits jetzt die nächsten Schritte diskutieren: Der gemeinsamen Schuldenaufnahme müssen gemeinsame und eigenständige Einnahmen der EU folgen.

Es muss gerecht zugehen

Dieses engere wirtschaftliche Zusammenwachsen wird auf Dauer nur Akzeptanz finden, wenn es gerecht zugeht in Europa. Deshalb ist es wichtig, dass wir in unserer Ratspräsidentschaft einen großen Schritt vorangekommen sind bei der Vereinbarung eines verbindlichen Rahmens für Mindestlöhne in ­allen ­Mitgliedstaaten.

Und hierzu gehört auch, dass wir das Steuerdumping unter EU-Partnern insbesondere im Bereich der Unternehmenssteuern beenden. Dies wird uns nur gelingen, wenn wir verstärkt übergehen zum Prinzip von Mehrheitsentscheidungen. Gleiches gilt für die Außenpolitik, bei der die Bürgerinnen und Bürger zu recht mehr gemeinsames europäisches Handeln erwarten. Wenn wir Europa weltpolitikfähig machen wollen, kann nicht der Langsamste das Tempo bestimmen. Der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen ist in der Welt des 21. Jahrhunderts ein Gewinn, kein Verlust an Souveränität.

Unser Land hat Europa mehr zu verdanken als jedes andere EU-Mitglied. Als größter Mitgliedstaat haben wir eine besondere Verantwortung, dieses Europa zusammenzuhalten und Mehrheiten zu organisieren, dieses Europa zu stärken. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben mit der Ratspräsidentschaft gezeigt, dass das geht.

Autor*in
Porträt Scholz
Olaf Scholz

ist Bundesfinanzminister und Kanzlerkandidat der SPD.

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