Warum der Krieg in der Ukraine für eine globale Zeitenwende sorgt
Ute Grabowsky/photothek.net
Während der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine die europäische Sicherheitsordnung erschüttert, ist man in anderen Teilen der Welt von den „Nebenwirkungen“ des Krieges in besonderer Weise betroffen. Schon der Kampf gegen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und die Auswirkungen der Klimakrise stellte viele Entwicklungsländer vor große Herausforderungen. Der Krieg in der Ukraine erschwert nun deren Bewältigung zusätzlich und fügt neue Krisendynamiken hinzu.
Risiko für Hungersnöte steigt
In Folge der russischen Invasion steigen beispielsweise die Preise für Brot, Benzin und Dünger in den Ländern des Globalen Südens rasant an. Gleichzeitig haben viele Exportländer die Ausfuhr von Nahrungsmitteln eingeschränkt, sodass vielerorts Lebensmittelknappheit droht. Angesichts dieser Entwicklungen steigt das Risiko für Hungersnöte, aber auch für Proteste, die zu Unruhen führen. Hinzu kommt die Sorge, dass in den Geberländern aufgrund neuer Verpflichtungen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine Bereitschaft und Ressourcen für die Unterstützung des Globalen Südens sinken könnten. Dabei benötigt man diese dort jetzt dringender denn je. Wir Europäer*innen müssen diesen Befürchtungen entgegentreten. Die Unterstützung der Ukraine und ein starkes Engagement im Globalen Süden dürfen sich nicht gegenseitig ausschließen.
Warum unser Einsatz für den Globalen Süden gerade jetzt wichtig bleibt, zeigen zwei Beispiele aus Afrika: Am Horn von Afrika herrscht die schlimmste Dürre seit 40 Jahren. Bis zu 20 Millionen Menschen sind akut von Hunger bedroht. Zeitgleich vervielfachen sich die Preise für Nahrungsmittel und Dünger aufgrund des Krieges in Europa. Mehr als ein Drittel der Getreideimporte des östlichen Afrikas kamen bislang aus Russland oder der Ukraine. Die Lieferungen sind seit der russischen Invasion in der Ukraine eingebrochen. Die Staatshaushalte der Region sind nach zwei Jahren Pandemie und wirtschaftlichen Einschränkungen massiv verschuldet und können die Preiserhöhungen nicht abfedern. Dem UN-Welternährungsprogramm, das mehr als die Hälfte seines Getreides aus der Ukraine oder Russland bezieht, fehlen derweil die Mittel, um drohende Hungersnöte zu bekämpfen. Immer verzweifelter werden die Appelle an die internationale Gebergemeinschaft.
Rückzug aus Mali wäre fatales Signal
In Westafrika zeigt sich indes, dass auch der Schutz der Zivilbevölkerung schwieriger wird. Die Klimakrise hat unter anderem in der Sahel-Zone bereits zu erhöhten Konfliktrisiken geführt, weil Weideflächen und Wasserstellen schrumpfen. Wirtschaftliche Perspektivlosigkeit, nicht vorhandene Daseinsvorsorge und fehlende Sicherheit erhöhen bei vielen die Anreize, sich gewaltbereiten Gruppen anzuschließen. Letztere werden von den Militärs der Region oftmals ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung bekämpft. Zunehmend kommen dabei auch russische Waffen und Militärberater zum Einsatz.
Lokal koordinierte Unterstützung für menschliche Sicherheit, die auch von deutscher und europäischer Entwicklungszusammenarbeit gefördert wird, sowie internationale Blauhelmmissionen wie in Mali können vor Ort einen wichtigen Beitrag zum Schutz der Zivilbevölkerung leisten. Die Fortsetzung des MINUSMA-Einsatzes und die deutsche Beteiligung daran standen insbesondere seit dem Abzug aus Afghanistan im vergangenen Sommer in der Debatte. Der Ukraine-Krieg wirft nun verstärkt die Frage auf, ob ein Engagement weiterhin tragbar ist, wenn doch die aktuelle Bedrohung so unmittelbar vor der Haustür liegt. Unser Rückzug aus der Sahel-Zone würde der Zivilbevölkerung jedoch notwendigen Schutz entziehen und die humanitäre Versorgung erschweren. Das wäre ein fatales Signal für die Menschen vor Ort. Es wäre auch kaum ein Beleg für die europäische Bereitschaft, künftig mehr globale Verantwortung zu übernehmen.
Der Globale Süden zählt auf Europa
Die zwei Beispiele veranschaulichen, dass wir gerade jetzt die Zusammenarbeit mit dem Globalen Süden eher intensivieren als zurückzufahren sollten. Unsere internationale Solidarität gebietet, dass wir an unserem globalen Engagement für eine umfassende menschliche Sicherheit innerhalb und außerhalb Europas festhalten: Als Globaler Norden haben wir jahrhundertelang von Kolonialismus und Globalisierung profitiert und dabei auf Kosten der Länder des Globalen Südens gelebt. Letztere leiden nicht nur am meisten unter der Klimakrise, sondern haben auch am wenigsten dazu beigetragen. Es ist Teil unserer globalen Verantwortung, diese Länder nun weiter zu unterstützen – insbesondere, wenn sie akut von den Auswirkungen des Krieges in Europa betroffen sind.
Europas Engagement ist hierfür breiter aufgestellt als das anderer Partner des Globalen Südens. Russland, China, die Türkei oder auch die Vereinigten Arabischen Emirate arbeiten dort fast ausschließlich mit Regierungen zusammen – egal wie demokratisch diese sind. Europa dagegen kooperiert auch mit Parlamenten, der Justiz und der Zivilgesellschaft. Ob bei der Bekämpfung von Hunger, beim Schutz der Zivilbevölkerung, bei der Durchsetzung von Menschen- und Arbeitnehmerrechten in globalen Lieferketten und bei der Stärkung demokratischer Spielräume – zivile Akteur*innen im Globalen Süden zählen auf europäische Unterstützung. Aus Russland und China ist diese nicht zu erwarten. In den meisten Ländern des Globalen Südens wünscht sich eine Mehrheit der Bevölkerung Verwirklichungschancen, die nur Demokratien garantieren. Den gemeinsamen Einsatz für soziale und politische Rechte weltweit fortzusetzen – ohne dabei außenpolitisch naiv zu sein –, muss daher Teil der Zeitenwende sein.
Konkrete Angebote machen
Auch geostrategisch ist die Fortsetzung eines starken globalen Engagements für Europa essentiell. Keine andere Weltregion profitiert von der regelbasierten multilateralen Ordnung so sehr wie die EU, die ihren Wohlstand und ihre Lieferketten auf deren Verlässlichkeit aufgebaut hat. Deshalb ist die bislang unterschätzte Deglobalisierung, die derzeit entlang exklusiver Einflusszonen droht, angesichts der besonderen Einbindung des europäischen Wohlstands in eine globale Arbeitsteilung ein besonderes Risiko. Umso mehr sollte sich Europa für den Erhalt jener regelbasierten Ordnung auch jenseits seiner Grenzen engagieren.
Dafür benötigen wir Partner. Um diese werden wir uns allerdings intensiver als früher bemühen müssen. Der Kreis der EU, der G7, der NATO oder der OECD ist dafür zu klein. Wir müssen dem Globalen Süden verstärkt konkrete und faire Angebote machen, mit denen die EU zu einem attraktiveren Partner als bislang wird. Das ist kein Altruismus, sondern Vernunft im gegenseitigen Interesse: Wer nämlich im eigenen Interesse Mehrheiten für eine regelbasierte multilaterale Ordnung sichern will, muss für die Entwicklungsländer und für gemeinsame politische Projekte Partner erster Wahl sein.
„Wir benötigen einen neuen Modus der Zusammenarbeit“
Die Enthaltungen einiger Entwicklungs- und Schwellenländer bei der Abstimmung zur Ukraine-Resolution in der UN-Vollversammlung Anfang März ist daher ein Warnsignal. Unter den mehr als 140 Ländern, die für die Resolution stimmten, waren im Globalen Süden vor allem solche, in denen sich Europa besonders engagiert und die eher Demokratien sind. Wir sollten uns jedoch auch mit den Gründen beschäftigen, die bestimmte Länder zu einer Enthaltung geführt haben, und daraus konstruktive Politikansätze ableiten. Eine zunehmend multipolare Welt ist für viele Länder des Globalen Südens eben auch eine, in der sie Abhängigkeiten von Europa und den USA verringern und Partnerschaften diversifizieren können. Russland gehört zunehmend zu diesen Partnern, beispielsweise als größter Waffenexporteur nach Afrika, aber auch im Bereich des Getreideexports. Eine eindeutige Positionierung gegenüber Russland fällt daher einigen Ländern schwerer.
Hierauf sollte Europa konstruktiv reagieren. Die zukünftige Zusammenarbeit sollte nicht auf Kategorien von „Belohnung“ oder „Bestrafung“ für Abstimmungsverhalten aufbauen. Stattdessen sollten die Chancen einer gemeinsamen Gestaltung von globalen Herausforderungen betont werden. Länder wie Indien und Südafrika enthielten sich bei der Abstimmung in der Generalversammlung unter anderem deswegen, weil sie bei uns Doppelstandards unterstellen, beispielsweise bei der Pandemiebekämpfung. Nicht nur diese beiden Länder bleiben jedoch entscheidende Partner für einen regelbasierten Multilateralismus. Wir müssen dem Globalen Süden daher mehr als je zuvor wettbewerbsfähige Angebote machen. Dafür benötigen wir einen neuen Modus der Zusammenarbeit und ein besseres Verständnis der jeweiligen Interessen.
Keine Zusammenarbeit mit Autokraten
Unsere Zusammenarbeit muss strategischer aufgestellt sein als in der Vergangenheit. Dazu braucht es mehr Kohärenz zwischen den verschiedenen Politikfeldern in Europa. Ansätze in der Außen-, Entwicklungs-, Klima- und Wirtschaftspolitik müssen ineinandergreifen. Trotz des erhöhten Mittelbedarfs für Verteidigung muss das umfangreiche humanitäre und entwicklungspolitische Engagement erhalten bleiben. Jeder Euro für Krisenprävention spart am Ende ein Vielfaches der Kosten, die für den Umgang mit den Krisenfolgen aufgewendet werden müssten. Jeder Euro, der in den Schutz von Demokratie fließt, schafft ein Fundament für politische Stabilität.
Voraussetzung für einen Politikwechsel ist immer auch die kritische Bewertung des eigenen Handelns. Zu oft haben wir in der Vergangenheit kurzfristige Sicherheit mit langfristiger Stabilität verwechselt. Die Zusammenarbeit Europas mit Autokraten in Afrika, um die Migration nach Europa zu kontrollieren oder vermeintlich regionale Sicherheit zu stärken, war ein Fehler. Er kostete uns Vertrauen bei denjenigen, die – mit wachsendem Erfolg – gegen diese Autokraten protestieren und bald Regierungsverantwortung übernehmen könnten. Die Durchsetzung von Handelsinteressen, die zwar Interessen einzelner europäischer Industrien schützen, aber den Aufbau von Wertschöpfung im Globalen Süden einschränken, macht es anderen Akteuren leichter, vermeintlich attraktivere Angebote zu unterbreiten, zum Beispiel bei der Errichtung wirtschaftlicher Infrastruktur. In einer Welt, in der viele Entwicklungsländer von verschiedenen potentiellen Partnern umworben werden, gewinnt eine fairere Handelspolitik der EU geopolitische Bedeutung. Durch sie können wir die Partner gewinnen, die wir brauchen.
Europas Vorteil bleibt die Fähigkeit zur multidimensionalen Zusammenarbeit mit dem Globalen Süden. Sie erfährt dort hohe Anerkennung – darin sind sich unsere Partner aus Politik, Zivilgesellschaft und Gewerkschaften von São Paulo über Bamako bis Dhaka einig. Eine zunehmend multipolare Welt braucht mehr und nicht weniger internationales Engagement. Auch daran muss sich unser politischer Umgang mit der Zeitenwende messen lassen.
Am 27. April erschienen im IPG-Journal.
Michael Gottschalk/photothek.net
ist Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er war von 2017-2018 SPD-Parteivorsitzender und von 2012-2017 Präsident des Europäischen Parlaments.