Von Weimar bis Willy Brandt: Warum Kompromisse zur Demokratie gehören
imago images/Imaginechina-Tuchong
„Ein fauler Kompromisse“. Diese Zuschreibung ist viel zu oft zu hören, wenn unterschiedliche Positionen in der Politik zusammengeführt werden. Der Kompromiss hat keinen guten Ruf in Deutschland. Ein Kompromiss der nicht taugt, der die Erwartungen enttäuscht und nur der kleinste gemeinsame Nenner ist. Faul eben. Und ein Kompromissler – das ist jemand, der verdächtig ist. Ein Kompromissler gibt vorschnell Überzeugungen auf, Prinzipien gelten ihm wenig.
Woher kommt diese Abneigung? Warum hat der Kompromiss in Deutschland einen so schlechten Ruf? Vieles lässt sich mit der deutschen Geschichte erklären. Willhelm II. verstand sich als jemand, der rigoros auftrat und damit die politische Kultur des Kaiserreichs prägte. Seine Reden vermittelten eine Weltsicht, in der es darum ging, sich unbedingt zu behaupten, ohne Rücksicht. „Pardon wird nicht gegeben.“ – so der bekannteste Ausdruck dieser Perspektive in seiner Hunnenrede im Juli 1900.
Bis 1945: Freund-Feind-Denken
Schon damals wirkte diese Haltung für einige aus der Zeit gefallen. Und doch hat sie die Zeitenwende im November 1918 überdauert und die Entfaltung einer stabilen Demokratie in den Weimarer Jahren verhindert. Die Parteien, die die neue republikanische Ordnung und damit auch die Notwendigkeit zur Kompromissfindung mittrugen, wurden immer weniger. Die Deutung des Staatsrechtlers Carl Schmitt, dass sich politisches Handeln immer auf die Unterscheidung zwischen Freund und Feind zurückführen lasse, passte in die Zeit. Mit Feinden schließt man keine Kompromisse.
Für die Nationalsozialisten war die Ablehnung jeder Kompromissorientierung nicht nur rhetorisches, politisches und handlungspraktisches Grundprinzip, sondern Ausdruck des deutschen Wesens. Der Historiker Michael Wildt wählte zur Charakterisierung der nationalsozialistischen Täter*innen die treffende Zuschreibung einer „Generation des Unbedingten“. Eben keine Kompromisse einzugehen, sondern „bedingungslos“ zu handeln, das war die grausam-prägende Grundhaltung.
Willy Brandt: „Wesen der Demokratie ist der Kompromiss“
Zweifellos hat sich nach 1945 in Deutschland eine sehr, sehr andere Vorstellung des Politischen entwickelt. Kompromisse wurden in den Bonner Jahren zu einer alltäglichen Praxis im politischen Miteinander. Aber ebenso zweifellos sind noch Spuren des politischen Rigorismus in unserem Sprachgebrauch und wohl auch in unserem Politikverständnis vorhanden.
Entsprechend engagiert erklärte Willy Brandt 1966 in einem Interview mit dem Spiegel: „Das Wesen der Demokratie ist der Kompromiss.“ Angesichts der ersten Großen Koalition hat er verschmitzt hinterhergeschoben: „Wenn er zusammen mit der SPD ausgehandelt werden muss, ergibt es einen besseren Kompromiss als den, der allein aus den Gegensätzen innerhalb der CDU/CSU herauskommt.“ Damit verwies Brandt darauf, dass es bei einem Kompromiss darum geht, etwas zusammenzuführen, was an unterschiedlichen Stellen entstanden ist.
Der Kompromiss steht in einem eigenartigen Spannungsverhältnis zum Ideal. Ohne ein Ideal, mit dem Parteien bei Wahlen antreten, ohne eine Vorstellung davon, wie das Gute erreicht werden könnte, kommt keine Partei aus. Sie ist nicht nur eine wichtige Triebfeder für politisches Handeln, sondern oft auch Grundlage für die Wahlentscheidung der Bürgerinnen und Bürger. Sobald ein Kompromiss ausgehandelt wird, ist aber klar, dass sich das Ideal nicht mehr absolut durchsetzen kann. Das Ideal leidet. Es wird nicht verraten, doch es findet sich nur teilweise im Kompromiss wieder.
Bei einem guten Kompromiss entsteht aber etwas Neues: Eine Politik, die unterschiedliche Interessen zusammenführt, bewegt die Gesellschaft in Richtung eines allgemeineren Wohls. Nicht mehr eine Gruppe setzt sich auf Kosten anderer durch, sondern unterschiedliche Interessen werden ausgehandelt, abgewogen und in eine neue Richtung entwickelt, mit der sich nun unterschiedliche Gruppen identifizieren können. Das setzt voraus, dass niemand über den Tisch gezogen wird. Die unterschiedlichen Ausgangspositionen müssen auch im Kompromiss erkennbar bleiben. Gute Kompromisse finden – das wird deutlich – ist anspruchsvoll.
Faule Kompromisse gibt es trotzdem
Gilt es um jeden Preis Kompromisse zu schließen? Der israelische Philosoph Avishai Margalit hat sich gründlich mit dieser Frage auseinandergesetzt und kommt zu dem Schluss, dass es einen Kompromiss um jeden Preis nicht geben darf. Im Gegenteil: Es gibt tatsächlich faule Kompromisse. Margalit bezieht sich exemplarisch auf das Münchener Abkommen, bei dem 1938 versucht wurde, die aggressive Außenpolitik Hitlers einzuhegen. Aus Margalits Sicht war das ein Kompromiss mit dem absolut Bösen, der nie hätte eingegangen werden dürfen. Aber jenseits solcher Fälle spricht er sich leidenschaftlich für Kompromisse aus: Der Kompromiss ist dem Konflikt vorzuziehen. Kompromisse müssen für den Frieden geschlossen werden.
Krieg und Frieden? Ist das nicht ziemlich weit weg von der einigermaßen stabilen bundesrepublikanischen Demokratie? Tatsächlich zeigt der Blick in andere Demokratien, dass es keine Garantie für Stabilität gibt. Dort, wo die Fähigkeit verloren geht, Kompromisse zu schließen, wo politische Partner*innen zu Feinden erklärt werden und wo Verständnis für die Positionen Anderer als Verrat gelten, geraten selbst jahrhundertealte Demokratien ins Wanken. Der Sturm aufs Kapitol in den USA ist trauriges Beispiel dieser Entwicklungen.
Ausblick für 2022: Es bleibt kompliziert
Wie steht es um die Kompromissfähigkeit in Deutschland im neuen Jahr? In einer immer komplexeren, global vernetzten Welt, in der alles irgendwie mit allem zusammenzuhängt, in der Ursache und Wirkung mitunter schwer zu unterschieden sind, wächst einerseits das Bedürfnis nach klaren und eindeutigen Antworten. Die harschen Auftritte der Corona-Leugner*innen, die Zunahme von Verschwörungstheorien und der Hass, der politisch engagierten Menschen oder differenzierenden Journalist*innen entgegenschlägt, ist Ausdruck der Suche nach Eindeutigkeit. Und Kompromisse sind immer kompliziert. Sie sind nicht schwarz oder weiß, sondern oft irgendwie grau.
Andererseits hat sich die deutsche Gesellschaft unglaublich ausdifferenziert, ist bunt und vielschichtig. Andreas Reckwitz „Gesellschaft der Singularitäten“ ist eine der Gegenwartsdiagnosen, die diese Entwicklung untersucht. Kompromisse, die einen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Gruppen, Lagern und Interessen in der Gesellschaft organisieren und bestenfalls etwas Verbindendes stiften, sind also umso wichtiger und notwendiger.
Auch im neuen Jahr wird es also darauf ankommen, Kompromisse auszuhandeln. Denjenigen, denen das gelingt, gebührt Anerkennung. Platte Hinweise auf „faule Kompromisse“ können getrost im alten Jahr zurückbleiben.
Prof. Dr. Christian Krell (1977) ist Professor für Politikwissenschaft und Soziologie an der HSPV NRW (Köln) und Honorarprofessor der Universität Bonn. Er ist Mit-Herausgeber der Zeitschrift „Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“. Seine härtesten Verhandlungspartner beim Aushandeln von Kompromissen sind seine beiden Söhne (4 und 8).
ist Professor für Politikwissenschaft an der HSPV NRW Köln. Er leitete die Akademie für Soziale Demokratie und das Nordische Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung und ist Mitglied der Grundwertekommission der SPD.