Vollbeschäftigung muss das Ziel sozialdemokratischer Finanzpolitik sein
Florian Gaertner/photothek.net
Als Olaf Scholz am Montag bei der Pressekonferenz zur Bekanntgabe seiner Kanzlerkandidatur skizzierte, was ihm wichtig sei, ging es zu allererst um „Respekt und Anerkennung“; um „Respekt und Anerkennung, die sich eben auch in ordentlichen Gehältern und stabilen Arbeitsverhältnissen ausdrückten.“
Die Chance auf gute, den Lebensunterhalt sichernde Arbeit für jede und jeden ist seit jeher ein zentrales Ziel der SPD, das sich auch in Errungenschaften der letzten Legislaturperioden widerspiegelt—wie dem Mindestlohn oder der Grundrente. Aber wir haben uns in der Vergangenheit und insbesondere auch im letzten Koalitionsvertrag auf eine Inkohärenz eingelassen: Auf der einen Seite stand für uns das Ziel der Vollbeschäftigung, aber auf der anderen Seite das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts.
Gute Arbeit ist keine Selbstverständlichkeit
Lange Zeit mag es so ausgesehen haben, als seien ein ausgeglichener Haushalt und Vollbeschäftigung (im Sinne guter Arbeit für alle) kein Widerspruch: Preußische Disziplin beim Sparen und Schaffen brachte, so hieß es, den „kranken Mann Europas“ wieder auf die Beine. Brummende Exporte sorgten für gute Arbeitsplätze, auch ganz ohne Schulden. Gremien wie der Sachverständigenrat verliehen diesen Erzählungen mit gesammelter professoraler Autorität das fachliche Gütesiegel.
Die Coronakrise hat gezeigt, dass diese Erzählung nicht stimmt: Pflegekräfte, Einzelhandelspersonal, ErntehelferInnen, oder FleischzerlegerInnen arbeiten vielerorts weder zu Löhnen, die ihrem Beitrag zur Gesellschaft entsprechen, noch unter menschenwürdigen Bedingungen. Insgesamt verdient jeder und jede vierte Arbeitnehmer*in unter elf Euro die Stunde. Und knapp acht Millionen Menschen—fast 20 Prozent aller Arbeitenden—sind Minijobber*innen. Gute Arbeit ist in Deutschland keine Selbstverständlichkeit.
Was der Staat tun kann
Diese Missstände sind zu groß, zu systematisch, als dass man sie allein durch Regulierung oder auch einen höheren Mindestlohn beheben könnte. Es geht um Grundlegenderes. Schlechte Arbeitsbedingungen, schlechte Tarifverhandlungen und schlechte Reformen gedeihen in schwachen Arbeitsmärkten. Schwache Arbeitsmärkte beruhen auf schwacher Nachfrage. Aber diese ist nicht naturgegeben: Wie wir in der Corona- und der Finanzkrise erlebt haben, kann der Staat einiges tun, um die Nachfrage zu stärken (oder bei Bedarf zu drosseln).
Der Staat stärkt die Nachfrage, wenn er mehr Geld ausgibt als er einnimmt. Das kann er allerdings nicht, wenn er sich durch die Vorgabe eines ausgeglichenen Haushalts (sprich maximal so viele Ausgaben wie Einnahmen) selbst die Hände zusammenbindet. Das ist in etwa so, als wollte man sich gut um eine Pflanze kümmern, sie aber wetterunabhängig jeden Tag maximal mit einem Glas Wasser gießen.
Öffentliche Investitionen sichern Arbeitsplätze
Wenn wir glaubwürdig für Vollbeschäftigung stehen wollen, können wir nicht zulassen, dass unser mächtigstes Instrument, die Finanzpolitik, für ein zumeist gegenläufiges und oft sinnfreies Ziel eingesetzt wird: Einen ausgeglichenen Haushalt. Stattdessen sollte Vollbeschäftigung im Zentrum unserer Finanzpolitik stehen.
In den nächsten Jahren wird der Widerspruch zwischen guter Beschäftigung und Sparpolitik deutlich zu sehen sein: Denn nur wenn der Staat Geld für Soziales in die Hand nimmt, werden unsere Pfleger*innen, Erzieher*innen und Mitarbeiter*innen in Gesundheitsämtern besser bezahlt. Nur mit öffentlichen Investitionen in Forschung, Innovation, den Ausbau digitaler und ökologischer Infrastruktur und in die aktive Ansiedlung grüner Technologien, werden wir auch weiterhin gute, nachhaltige Jobs im Exportsektor hervorbringen.
Für gute Arbeit, gegen schlechte Finanzpolitik
Bisher haben wir als SPD versucht, durch Regulierung die harten Kanten unserer Wirtschaftsordnung abzuschleifen und die Löcher an mangelndem Respekt zu stopfen. Damit schwammen wir ständig gegen eine Finanzpolitik an, die sich einem anderen, von der realen Wirtschaft und dem Arbeitsmarkt losgelösten Ziel versprochen hatte.
Wir haben nun die Chance, es uns leichter zu machen und unsere Finanzpolitik wieder fundamental auf Vollbeschäftigung im Sinne guter, nachhaltiger Arbeit für alle auszurichten. Voraussetzung dafür ist es, nicht pauschal ausgeglichene Haushalte zu fordern. Auch sollten wir die Schuldenbremse, die keine Schulden, sondern nur bestimmte Ausgaben bremst, durch eine Zinskostenbremse ersetzen. Damit würde verhindert werden, dass der Bundeshaushalt in Finanzmärkte fließt, anstatt der Ankurbelung der Nachfrage zur Verfügung zu stehen. Aber auch ohne Abschaffung der Schuldenbremse gibt es Spielräume.
Vollbeschäftigung war immer unser Ziel. Nun sollten wir die Voraussetzungen schaffen, um es in Zukunft glaubwürdig umsetzen zu können. Denn gute Arbeit geht vor schlechter Finanzpolitik: Sie ist die wahre Quelle unseres Wohlstands und die wahre Quelle gesellschaftlichen Respekts.
ist Mitgründer des Dezernat Zukunft, Inhaber des Chaire SFPI an der Académie royale de Belgique, und hat in politischer Theorie in Yale promoviert.