Verteidigung: Wie Olaf Scholz die Erwartungen der USA übertrifft
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Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine scheint die Zeit im Eiltempo zu vergehen: Jeder Tag bringt neue Schreckensnachrichten über die Realität des Krieges vor Ort – mit Fotos und Videos tapferer Ukrainerinnen und Ukrainer, die um ihr Leben und für ihr Land kämpfen. Bei ihrer Reaktion auf diesen Krieg waren sich die EU und die Vereinigten Staaten weitgehend einig: Sie verhängten strenge Sanktionen gegen Russland. Sie ließen den russischen Rubel einbrechen, schlossen Russland vom weltweiten Bankensystem aus und machten das Land zu einem weltweit geächteten Staat. Die NATO-Länder haben Verteidigungswaffen an die Ukraine geliefert und erstmals in der Geschichte die Reaktionsstreitmacht des Bündnisses für einen kollektiven Sicherheitseinsatz aktiviert. Die überraschendste Entwicklung bei den transatlantischen Verbündeten ist allerdings Deutschlands außenpolitische 180-Grad-Wende innerhalb weniger Tage.
Auf beiden Seiten des Atlantiks war das Erstaunen groß, als der deutsche Kanzler Olaf Scholz erst den Zertifizierungsprozess von Nord Stream 2 abbrach und ankündigte, Deutschland werde 1 000 Panzerabwehrwaffen und 500 Stinger-Luftabwehrraketen an die Ukraine liefern, und schließlich im Bundestag weitere deutsche Schritte verkündete. Dazu gehören der Kauf von F-35-Kampfflugzeugen und das Versprechen, ein Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro in der Verfassung zu verankern und das von der NATO festgelegte jährliche Ausgabenziel zu übertreffen. Scholz’ Rede wäre vor einer Woche eine Überraschung und vor nur einem Monat absolut undenkbar gewesen.
Deutschland bereit als Führungsmacht Europas
Der Schock hinter der deutschen Kehrtwende ist vielschichtig und es lässt sich nur schwer beschreiben, was genau dahinter steckt. Russland dabei zuzuschauen, wie es seinen direkten Nachbarn überfällt, war natürlich ein Weckruf, aber trotzdem ging die Reaktion über alles hinaus, was die meisten – insbesondere die Vereinigten Staaten – von Berlin erwartet hätten. Es scheint, dass Deutschland noch weiter geht, als lediglich mehr für Verteidigung auszugeben und sein Militär nach Jahrzehnten der Vernachlässigung und mangelnden Investitionen in Bereitschaft zu versetzen. Es sieht so aus, als stünde das Land an der Schwelle zu etwas noch Wichtigerem: einer grundlegenden Änderung seiner Einstellung. Tatsächlich werden die Waffenexporte und die Investitionen in die Streitkräfte laut einer Blitzumfrage von 78 Prozent der Deutschen unterstützt. Obwohl es für ein abschließendes Urteil zu früh ist, scheint es, dass das Land endlich bereit ist, seinen Platz als rechtmäßige Führungsmacht innerhalb der europäischen Verteidigung zu akzeptieren.
Bis jetzt hat Deutschlands Zurückhaltung, diese Führungsrolle zu übernehmen, auf beiden Seiten des Atlantiks für Unmut gesorgt. Wie sich alle erinnern, war es ein entscheidendes Merkmal der Trump-Regierung, Deutschland ständig dafür zu kritisieren, nicht genug für seinen Verteidigungshaushalt auszugeben. Aber Trump war nicht der erste Präsident, der dies ansprach. Er sagte es lediglich lauter und schärfer als die meisten anderen.
Berlin bricht mit den letzten 30 Jahren
Was die Menschen allerdings zu vergessen scheinen, ist, dass mehr Geld für Verteidigungszwecke nicht einfach aus dem Nichts entsteht. Eine solche Politik muss von der Öffentlichkeit unterstützt werden, sonst setzen die Politiker ihre Zukunft aufs Spiel. In Deutschland gab es bisher einfach nicht genug öffentliche Unterstützung für mehr Rüstungsausgaben, also konnte kein Kanzler rechtfertigen, dieses Thema in sein Programm zu übernehmen. Obwohl Pazifismus und Kriegsschuld der Deutschen ein Teil des Problems waren, ging die Zurückhaltung noch tiefer: Sie reichte bis zum Kern dessen, wie sich Deutschland insgesamt als Mitglied Europas und der weltweiten Gemeinschaft sieht. Die Deutschen haben kein größeres Verteidigungsbudget unterstützt, weil sie Deutschland einfach nicht als Land betrachtet haben, das diese Rolle übernehmen sollte.
Obwohl Deutschland ein besonders krasses Beispiel ist, fehlte es auch Europa insgesamt an Investitionsbereitschaft – und an Interesse, sich der Herausforderung zu stellen. Wie Ivan Krastev für die New York Times schrieb: „In den letzten 30 Jahren haben sich die Europäer selbst davon überzeugt, dass militärische Stärke ihren Preis nicht wert sei und die militärische Vorherrschaft Amerikas genug sei, andere Länder davon abzuhalten, Krieg zu führen.“ Die letzten zwei Wochen haben jedoch alles verändert. Die Idee, auf dem europäischen Kontinent werde es nie wieder Krieg geben, hat sich in Luft aufgelöst. Obwohl die NATO nicht plant, sich vor Ort militärisch zu beteiligen, müssen sich die Europäer der Herausforderung stellen und bereit sein, die Demokratie, die sie so schätzen, zu verteidigen. Sie müssen damit anfangen, die Verteidigung ernster zu nehmen.
Der schwierigste Teil für Scholz kommt noch
Die Entscheidungen von Kanzler Scholz sind eine willkommene politische Wende, aber der schwierige Teil folgt erst noch. Es fällt leicht, die Notwendigkeit zu spüren, „etwas zu tun“, wenn man einem Diktator dabei zuzuschaut, wie er Panzer in ein souveränes Staatsgebiet schickt und unschuldige Zivilisten bombardiert. Dies könnte erklären, warum die deutsche Öffentlichkeit eine entschiedenere Reaktion unterstützt. Viel schwerer ist es allerdings, einen bestimmten Moment zu nutzen, um ihn in eine langfristige strategische Veränderung zu verwandeln. Genau das muss Kanzler Scholz aber als nächstes tun.
Scholz muss das Versprechen seiner Koalition erfüllen, Europas strategische Unabhängigkeit zu vergrößern. Dies war von Anfang an ein schwieriges Ziel, aber dieser Moment darf nicht vertan werden. Bis jetzt wurde die Vision eines unabhängigeren Europas vor allem vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron vertreten. Auch Scholz muss sich dieser Vision zukünftig anschließen. Die Teile des Puzzles liegen jetzt alle auf dem Tisch. Scholz muss sie nur noch zusammenfügen. Treffenderweise lautete die Überschrift des Koalitionsvertrags der neuen deutschen Regierung „Mehr Fortschritt wagen“. Der Moment für mehr Fortschritt ist nun gekommen.
Dieser Text erschien zuerst auf ipg-journal.de
ist Senior Fellow am Europe Center des Atlantic Council. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Europäische Sicherheit, die NATO und die transatlantischen Beziehungen.