Thomas Oppermann: Wir müssen unser offenes Parlament verteidigen!
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Die Bilder der Reichsflaggen schwenkenden Demokratieverächter*innen auf der Reichstagstreppe gingen um die Welt und werden so schnell nicht vergessen. Das Gebäude repräsentiert unsere auf Regeln und gewaltfreiem Diskurs fußende parlamentarische Demokratie. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat daher zurecht betont, dass wir derartige Vorkommnisse nicht hinnehmen dürfen. Trotz der Eskalation am Reichstagsgebäude ist aber auch Fakt, dass die Zusammensetzung der Anti-Corona-Demonstrationen am Wochenende insgesamt sehr heterogen war. Neben Reichsbürger*innen und anderen Rechtsextremen nahmen an ihnen auch „Esoteriker*innen“ und Menschen teil, die angesichts der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie um ihre Existenz fürchten. Besorgnis erregend ist, dass die Demonstrationen von rechtsextremen Kräften zunehmend erfolgreich dazu genutzt werden, eine Brücke in die bürgerliche Mitte zu schlagen. Auch den wohlmeinenden Protestierer*innen muss angesichts des Geschehens vom Samstag klar sein, mit wem sie sich da einlassen.
„Wir dürfen das Reichstagsgebäude nicht mit übertriebenen Sicherheitsmaßnahmen abschotten“
Obwohl solche Ereignisse in Zukunft unbedingt verhindert werden müssen, dürfen wir nicht überreagieren und jetzt mit übertriebenen Sicherheitsmaßnahmen das Reichstagsgebäude abschotten. Eine Lehre aus Weimar ist, dass wir den öffentlichen Raum nicht den Gegner*innen der Demokratie überlassen und schon gar nicht hinnehmen dürfen, dass sie dort ihre eigenen Regeln definieren. Umso ärgerlicher ist es, dass im entscheidenden Moment nur drei Polizeibeamte anwesend waren, die den Randalierer*innen allerdings mit großer Courage entgegentraten. Deshalb muss genau aufgeklärt werden, warum anfangs nicht genügend Polizist*innen am Westportal des Reichstagsgebäudes postiert waren und ob bei der Einsatzplanung Fehler passiert sind. Bisher konnte der Schutz des Deutschen Bundestages durch gezielte und anlassbezogene Maßnahmen immer gesichert werden.
Deshalb halte ich Schutzmaßnahmen, die den Charakter des Reichstagsgebäudes möglicherweise grundlegend verändern würden, nicht für angebracht. Mehr als zwei Millionen Besucher*innen kommen jedes Jahr in den Bundestag und erleben ihr Parlament als offene und dialogbereite Institution. Bei allem notwenigen Schutz dürfen wir den Reichstag daher nicht in eine „Polizeikaserne“ verwandeln.
Weitere Beschränkung der Versammlungsfreiheit wäre falsch
Auch eine weitere Beschränkung der Versammlungsfreiheit im Parlamentsviertel ist nicht die richtige Antwort. Stattdessen sollten wir uns auf die Umsetzung des bereits beschlossenen Sicherheitskonzepts im Rahmen des neuen Besucher*innen- und Informationszentrums konzentrieren. Dieses sieht vor dem Reichstagsgebäude eine räumliche Trennung von bereits sicherheitsüberprüften Gästen des Deutschen Bundestages von den anderen Besucher*innen des Parlamentsviertels vor. Es ist zu hoffen, dass angesichts der Ereignisse des vergangenen Wochenendes nunmehr Bewegung in die schwierigen Verhandlungen zwischen Bund, Berliner Senat und Bezirk Mitte kommt.
Die größere Gefahr für unsere demokratischen Institutionen droht nicht so sehr durch Angriffe von außen, sondern durch ihre Aushöhlung von innen heraus. Mit der AfD ist im Bundestag erstmals seit den 50er-Jahren wieder eine Partei im Bundestag vertreten, die in weiten Teilen unserem parlamentarischen System ablehnend gegenübersteht und der rechten außerparlamentarischen Systemopposition im Parlament eine Plattform bietet.
Das Parlament muss offen bleiben
Darum muss gelten: Die wehrhafte Demokratie darf sich von ihren Feinden nicht den Schneid abkaufen lassen! Sie darf aber unter dem Druck ihrer Feinde auch nicht zurückweichen und möglicherweise dauerhaft ihren Charakter verändern. Unser Parlament muss gerade jetzt offen und den Bürgern zugewandt bleiben!
war von 2017 bis zu seinem Tod im Oktober 2020 Vizepräsident des Deutschen Bundestages.