Susanne Selbert: Wie mich meine Großmutter politisch geprägt hat
Als meine Großmutter mit fast 90 Jahren im Jahre 1986 verstarb, war ich 26 Jahre alt. Ich habe also eine gute Erinnerung an sie, zumal es in unserer Familie üblich war, jeden Sonntagnachmittag die Großmutter zu Kaffee und Kuchen zu besuchen. Diese großen Familientreffen, zu denen auch oftmals gute Freunde eintrafen, waren stets geprägt durch ausgiebige Diskussionen über die aktuelle politische Lage. Für mich bedeuteten diese Gespräche in den Kinderjahren gähnende Langeweile – mit der Zunahme an Jahren wurde dann aber doch so manches Thema zunehmend interessanter.
Zu Kaffee und Kuchen bei Elisabeth Selbert
Im Rahmen dieser Gespräche offenbarte sich stets eine der Charakterstärken meiner Großmutter: Sie war ausgesprochen tolerant, trotz ihrer Ernsthaftigkeit und ihrer Gradlinigkeit in beruflichen und politischen Belangen. Stets gutmütig und aufgeschlossen gegenüber der „jugendlichen Rebellion“ hat sie uns als ernst zu nehmende GesprächspartnerInnen mit Respekt behandelt. In der Rückschau betrachtet muss ihr das sicherlich ab und an schwergefallen sein, denn so richtig „mehrheitskompatibel“ waren die Anschauungen meiner Cousinen, meines Bruders und mir seinerzeit nicht.
Und noch etwas zeichnete sie ganz besonders aus: Sie war überaus hilfsbereit und stellte ihr Zuhause auch anderen Menschen mit völliger Selbstverständlichkeit zur Verfügung. Als Herbert, ein Freund meines Vaters, aus dem Krieg nach Hause kam, fand er sein Elternhaus völlig zerstört vor. Die Eltern waren in der großen Bombennacht vom 22. Oktober 1943 in Kassel ums Leben gekommen. Meine Großmutter entschied ohne Zögern, „der Herbert bleibt bei uns“. Er blieb mehrere Jahre und wurde somit faktisch zum dritten Sohn. In der Folgezeit fanden immer wieder Freunde und Familienmitglieder bei ihr „Unterschlupf“.
Den Einsatz für demokratische Grundwerte mitgegeben
Ausgesprochen wichtig war ihr, dass alle fünf Enkeltöchter, genauso wie der Enkelsohn, „auf eigenen Füßen stehen sollten“. Dank einer guten Ausbildung oder eines Studiums sollten sie nie auf das Gehalt eines Ehemannes angewiesen sein. Nicht zuletzt mit Hilfe ihrer finanziellen Unterstützung konnten alle Enkelkinder einen qualifizierten Beruf erlernen und ihren Lebensunterhalt stets aus eigenen Mitteln bestreiten.
Mit zunehmendem Alter stelle ich immer wieder fest, wie viel Bedeutsames sie uns mitgegeben hat. Dazu gehören insbesondere der Einsatz für unsere demokratischen Grundwerte, Engagement für soziale Gerechtigkeit sowie eine gehörige Portion Toleranz, Mut und Hartnäckigkeit.
Durch ihren Mut Basis für Gleichberechtigung geschaffen
Willy Brandt hat in den 70er-Jahren einmal gesagt, die Gleichberechtigung komme voran, „wie eine Schnecke auf Glatteis“. Meine Großmutter teilte diese Einschätzung, hat sich aber nie entmutigen lassen. Noch im hohen Alter gab sie den Frauen mit auf den Weg, „sich stärker politisch zu organisieren und zu engagieren, um die Gleichberechtigung in steigendem und in erforderlichem Maße durchzusetzen. Wir können dies nicht von den Männern erwarten – das ist Frauensache“.
Wenn ich an sie zurückdenke, dann freue ich mich immer wieder darüber, dass sie durch ihr Engagement sowie durch ihren Mut und ihre Hartnäckigkeit die grundgesetzlich verankerte Basis geschaffen hat, die es den nachfolgenden engagierten Frauen ermöglicht hat, die Gleichberechtigung rechtlich durchzusetzen. Es gibt noch einiges zu tun – bleiben wir also weiterhin hartnäckig!
ist Landesdirektorin des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen und Mitglied im Landesvorstand der SPD Hessen.