Meinung

Streit um knappe Corona-Impfstoffe: In der Krise ist sich jeder selbst der Nächste

Nationale Impfstrategien helfen im Kampf gegen das Corona-Virus nicht weiter, im Gegenteil. Wenn wir das Virus schnell besiegen wollen, müssen Deutschland und die EU mit den ärmsten Ländern solidarisch sein.
von Rosilin Bock · 25. Januar 2021
Globale Impfsolidarität bedeutet auch, dass Bundesregierung und EU die Bedarfsformulierungen der Staaten des Globalen Südens respektieren.
Globale Impfsolidarität bedeutet auch, dass Bundesregierung und EU die Bedarfsformulierungen der Staaten des Globalen Südens respektieren.

Es ist eine Binsenweisheit, dass globale Pandemien nicht von einzelnen Ländern im Alleingang besiegt werden können. Umso erstaunlicher ist es vor diesem Hintergrund, in welche Richtung sich die politische Debatte zur Beschaffung und Verteilung der Corona-Impfstoffe entwickelt hat. Von koordinierten Lösungsvorschlägen mit internationaler Tragweite gibt es keine Spur. Stattdessen ist eine veritable Schlammschlacht im Gange, die vor Halbwahrheiten nur so strotzt und die sich im nationalen Klein-Klein erschöpft. Befeuert durch den Drang, sich Monate vor der Bundestagswahl zu profilieren, versuchen die politischen Parteien Kapital aus den (gefühlten) Fehlern der Regierung zu schlagen.

Diese Debatte ist ein Armutszeugnis für die gesamte deutsche Politik, denn sie geht erstens am Kern des Problems meilenweit vorbei und demonstriert zweitens leider auch deutlich, dass in der deutschen Politik nationalistische Argumentationsmuster keine Unbekannten sind, internationale Solidarität aber anscheinend schon. Das gilt leider zum Teil auch für die SPD. 

Alte Muster: Jeder (Staat) ist sich selbst der Nächste

Wenn schon die Beschaffung und Verteilung des Impfstoffes innerhalb Europas derartige Beißreflexe auslöst, kann es mit der Solidarität im globalen Rahmen – also vor allem auch jenseits der EU-Grenzen – nicht weit her sein kann. Über Exklusivverträge mit der Pharmaindustrie haben Staaten mit hoher Wirtschaftsleistung, einschließlich Deutschland, die lediglich 13 Prozent der (wohlhabenden) Weltbevölkerung repräsentieren, mehr als die Hälfte aller Impfstoffdosen aufgekauft, die 2021 auf den Markt kommen. Kein einziger Exklusivvertrag besteht hingegen mit einem Land des Globalen Südens. Oder, um es in der Analogie Kevin Kühnerts auszudrücken: Wenn man zunächst einmal den ganzen Heuhaufen kauft, weil man es sich leisten kann, bleibt für die ärmeren Bauern eben nichts übrig.

Die Bundesregierung und andere westliche Länder verweisen als Ausdruck ihrer globalen Solidarität gerne auf die Teilnahme an der COVAX-Initiative, der Weltgesundheitsorganisation (WHO), welche bis Ende des Jahres 2021 die Immunisierung von 20 Prozent der Bevölkerung des Globalen Südens sichern möchte. Das liegt weit unter der Schwelle zur Herdenimmunität  in Staaten, die über wesentlich schlechter ausgestattete Gesundheitsinfrastrukturen und schwächere Wirtschaften verfügen.

Dort werden die Folgen einer weiteren Welle, verschlimmert durch die wesentlich ansteckenderen Virusmutationen, um ein Vielfaches verheerender sein als wir es uns in unserer Home-Office-Gemütlichkeit vorstellen können. Alleine in Afrika werden 2021 wohl mehr Menschen an den indirekten Folgen der Pandemie sterben, als am Virus selbst.

Und: COVAX ist dramatisch unterfinanziert, allein 2020 fehlten bereits 4,3 Milliarden US-Dollar. Es wird aktuell davon ausgegangen, dass eine Durchimpfung der Weltbevölkerung frühestens bis 2023 erreicht werden kann – und davon, dass die Menschen im Globalen Süden erst einmal auf der Strecke bleiben.

Warum nationale Alleingänge mehr schaden als nutzen 

Der metaphorische Heuhaufens beschreibt auch die Kritik an der Beschaffung des Impfstoffs durch die EU geht am Kern des Problems vorbei: Die Menge an Impfstoff im Markt ja kann nicht beliebig vergrößert werden. Sowohl die Hersteller Pfizer/BioNTech als auch Moderna haben nicht die Produktionskapazitäten, um den globalen Markt zu bedienen. Deshalb bringt es auch nichts, wenn sich einzelne Staaten für die Zukunft durch Garantieverträge mehr Impfstoff sichern, wie aktuell von vielen Kritiker*innen gefordert. Die Knappheit besteht im Hier und Jetzt – sie muss anders gelöst werden.

Je knapper der Impfstoff ist, desto unwahrscheinlicher ist es auch, dass eine solidarische Verteilung des Impfstoffes stattfindet. Stattdessen versuchen politische Akteur*innen, über relative Zugewinne bei der Impfstoffbeschaffung gegenüber anderen Staaten bei den Wähler*innen zu profitieren.

Diese Haltungen sind einzeln gesehen nachvollziehbar, aber sie lassen die langfristigen Konsequenzen außer Acht: Durch nationale Egoismen wird derzeit viel diplomatisches Porzellan zerschlagen. Unsere unsolidarische Haltung könnte sich in der Zukunft rächen. Das gilt einerseits für die EU, aber noch viel stärker für unsere Beziehungen in den Globalen Süden. China und Russland schaffen es derweil, dortige Staaten mit ihren Impfstoffen zu versorgen.

Was Deutschland tun kann

Sowohl für die Bundesregierung als auch für EU gibt es verschiedene Maßnahmen, die sie ergreifen sollten, um in der Bekämpfung der Pandemie solidarischer zu agieren. Sie umfassen eine weitreichende Aufstockung der COVAX-Mittel, aber auch einen konsequenten Transfer von Technologien und Forschungsdaten in den von der WHO etablierten COVID-19 Technology Access Pool. Diese Transfers müssen auf freiwilliger Basis der Unternehmen erfolgen – bislang ist dies nicht geschehen; ebenso wenig haben westliche Regierungen die Initiative aufgegriffen.

Viele Seiten fordern auch die Auslizenzierung von Patentrechten in Märkte, die die Impfstoffentwickler*innen aus Kapazitätsgründen nicht in den kommenden Monaten bedienen können – Hersteller*innen wie Biontech und Curevac lehnen dies bislang ab. Da die Impfstoffentwicklung jedoch zu großen Teilen durch öffentliche Gelder ermöglicht wurde, sollte die Entscheidung nicht allein bei den Unternehmen liegen, sondern auch bei den Regierungen, die sie finanziert haben. An ihnen ist es, Druck auszuüben.

Es geht nicht um Verteilungsprobleme

Letztendlich bedeutet globale Solidarität jedoch auch, dass Bundesregierung und EU die Bedarfsformulierungen der Staaten des Globalen Südens respektieren. Sinnvoll wäre, die Impfstoffverteilung auf lokale Gegebenheiten abzustimmen und z.B. Impfstoffe, die ohne Kühlausstattung auskommen, prioritär an Staaten zu verteilen, die über eine solche Ausstattung nicht verfügen (und nicht etwa die Optionen für diese Impfstoffe ebenfalls aufzukaufen).

Außerdem unterstützt mehr als die Hälfte aller Mitgliedsstaaten der WTO eine Initiative Indiens, den Patentschutz für Medikamente, Impfstoffe und medizinische Geräte zur Behandlung von Covid-19 bis zur weltweiten Erreichung der Herdenimmunität auszusetzen. Die EU blockiert den Vorschlag mit dem Argument, der Schritt würde den Wettbewerb in der Impfstoffverteilung behindern. Diese Begründung ist allerdings weder ökonomisch noch politisch schlüssig, denn in der jetzigen Situation geht es nicht um Verteilungsprobleme, sondern darum, dass global nicht genügend Impfstoff vorhanden ist.

Zeit für neue Lösungen 

Initiativen wie COVAX sind löblich, aber solange der Impfstoff knapp ist, kann nicht mit einer solidarischen Verteilung gerechnet werden. So wird sich die Pandemie insbesondere im Globalen Süden unnötig in die Länge ziehen. Deutschland muss sich deshalb endlich von dem Irrglauben freimachen, dass man den Schutz von wirtschaftlichen Einzelinteressen und eine solidarische globale Impfstrategie miteinander vereinen kann. Der Schutz von Menschenleben gebietet es, die Produktion der Impfstoffe mit allen Mitteln anzuschieben, sodass diese auch für die Menschen in ärmeren Weltregionen zugänglich sind – zur Not eben auch per Lockerung des Patentschutzes oder staatlich verordneter Auslizenzierung.

Autor*in
Rosilin Bock

ist Vorsitzende des Fachausschusses für Internationale Politik, Frieden und Entwicklung der SPD Berlin.

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