Meinung

Solidarität oder Renationalisierung: Was in Europa auf dem Spiel steht

Durch die Corona-Krise stehen die europäischen Regierungschefs vor einer grundlegenden Weichenstellung. Entweder sie beschließen die notwendigen neuen Instrumente zur finanziellen Solidarität oder sie nehmen eine Renationalisierung der Europäischen Union in Kauf.
von Gerhard Stahl · 23. April 2020
Welche Rolle spielt Europa künftig in der Welt? Auch darüber entscheidet der Umgang mit der Corona-Krise.
Welche Rolle spielt Europa künftig in der Welt? Auch darüber entscheidet der Umgang mit der Corona-Krise.

Europa wurde ein Stillstand der Gesellschaft und Wirtschaft verordnet, um die Corona-Pandemie einzudämmen. Damit folgen die europäischen Länder dem Muster der Krisenbekämpfung, das bereits in China angewandt wurde. Ausgangsbegrenzungen und Geschäftsschließungen zeigen ihre positiven Ergebnisse bei der Pandemiebekämpfung, führen aber zu einem tiefen Wirtschaftseinbruch.  

Der Internationale Währungsfonds (IWF) vergleicht die gegenwärtige Wirtschaftslage mit der Weltwirtschaftskrise des Jahre 1929, auf welche die große Depression folgte. Damals war ein Börsenkrach an der Wall Street der Auslöser, der zu internationaler Massenarbeitslosigkeit und sozialen Unruhen mit weitreichenden politischen Folgen auch in Europa führte. Die erste deutsche Demokratie, die Weimarer Republik, wurde durch die soziale Krise untergraben und der Faschismus fand immer stärkeren Zulauf.

Die europäischen Wirtschaften brechen ein

Die WTO schätzt, dass der Welthandel 2020 bis zu einem Drittel einbrechen könnte, die UN geht von weltweit über 190 Millionen zusätzlichen Arbeitslosen aus. Der IWF sagt für 2020 für die EU eine schwere Rezession voraus. Für Deutschland wird ein Rückgang des BIP von sieben Prozent, für Frankreich von 7,2 Prozent, für Spanien acht Prozent und für Italien sogar von 9,1 Prozent erwartet. Die Wirtschaftskrise wird nach der IWF-Prognose in der Eurozone mit einem Einbruch von 7,5 Prozent deutlich stärker ausfallen als in anderen Teilen der Weltwirtschaft. In diese Prognose  fließen die Erfahrungen der Finanzkrise von 2008 ein.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten waren damals nur mit erheblicher Verzögerung und in begrenztem Umfang in der Lage, staatliche Hilfsmaßnahmen für die notleidende Wirtschaft zu beschließen. Daher dauerte es im Vergleich zu den USA und anderen Ländern länger, bis die EU die Krise überwinden konnte.

Die entscheidende Frage bei der gegenwärtigen noch größeren Krise wird sein, ob Mitgliedstaaten wie Deutschland, die Niederlande, Österreich und Finnland bereit sind, einer ausreichenden und schnellen europäischen Antwort zuzustimmen. Es kann nicht erwartet werden, dass einzelne Staaten in Europa die Krise überwinden, wenn gleichzeitig in den Nachbarländern Massenarbeitslosigkeit und soziale Unruhen herrschen.

Die EU hat bisher nur begrenzte Finanzmittel

In dieser Extremsituation zeigt sich, dass die Kompetenzen in der EU nicht nur für Gesundheitspolitik, sondern auch für die Finanzpolitik im Wesentlichen auf nationaler Ebene liegen. Es wird außerdem klar, dass die EU bisher nur sehr begrenzte finanzielle Mittel hat. Der Haushalt der EU beträgt nur rund ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU. Der Haushaltsrahmen wird im Rahmen einer siebenjährigen finanziellen Planung verbindlich festgelegt. Gegenwärtig laufen Verhandlungen über den neuen Finanzrahmen 2021 bis 2027. Aus dem EU-Haushalt werden die gemeinsame Agrarpolitik, die europäische Regionalpolitik, Forschung und Innovation, Entwicklungspolitik und alle sonstigen Ausgaben der EU finanziert.  

Die EU hat keine eigenen Steuern. Sie kann sich nicht verschulden und kann daher auch nicht mit den bestehenden Instrumenten auf große Krisen reagieren. Die wohlhabenden Mitgliedstaaten der EU haben bisher sehr genau darüber gewacht, dass der EU-Haushalt zu keiner großen finanziellen Belastung für den Steuerzahler wird. Um dies am Beispiel Deutschlands zu zeigen: Der Nettobeitrag Deutschlands für den EU-Haushalt 2018 beträgt 0,39 Prozent des BIP oder 160 Euro pro Kopf im Jahr. Deutschland gibt 0,67 Prozent des BIP für Entwicklungshilfe aus. Damit bezahlt Deutschland für die EU deutlich weniger als für Entwicklungshilfe. Dieser Vergleich ist kein Argument gegen den deutschen Beitrag für Entwicklungshilfe, er soll vielmehr eine realistische Einschätzung des EU-Haushalts erlauben.

Die EU ist mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft

Es ist offensichtlich, dass aus dem vergleichsweise kleinen EU-Haushalt keine großangelegten Hilfsprogramme für die besonders von der Corona-Krise betroffenen Mitgliedstaaten finanziert werden können. Auch die bisher bekannten Vorschläge für den nächsten Finanzrahmen 2021 bis 2027 von 1,11 Prozent des BIP (Kommissionsvorschlag) oder 1,07 Prozent (Kompromiss der Ratspräsidentschaft) werden daran wesentlich nichts ändern. 

Die Europäische Union ist nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft und Währungsunion. Sie ist auch eine politische Union, die auf Werten basiert. In den EU-Verträgen ist als Ziel der Union in Art. 3 ausdrücklich aufgenommen: „Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“. 

Die EU-Mitgliedstaaten haben noch immer große Schwierigkeiten, sich auf eine gemeinsame Position zu verständigen. Sowohl der italienische als auch der spanische Regierungschef erwarten eine europäische Initiative auch mit neuen Finanzierungsinstrumenten. Der französische Präsident Emmanuel Macron sieht sogar die Europäische Union bedroht, wenn es nicht gelingt, sich auf einen Wiederaufbaufonds zu einigen, der auch von der EU garantierte Anleihen ausgeben kann. Dagegen stehen finanzpolitische Hardliner in den Niederlanden, Österreich und Deutschland, die hoffen mit den bestehenden Instrumenten, z.B. dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), der Darlehen gegen Auflagen vergibt, und Krediten der Europäischen Investitionsbank, die Krise bewältigen zu können.

Corona erschüttert die EU in ihren Grundpfeilern

Die Finanzminister der EU-Mitgliedstaaten konnten sich am 9. April in einem über 16-stündigen Verhandlungsmarathon immerhin auf Darlehnsgewährung aus dem ESM und Kredite durch die EIB einigen. Außerdem wurde ein neues, vorübergehendes Instrument akzeptiert, welches in der Größenordnung von 100 Milliarden Euro Mitgliedstaaten bei Arbeitslosigkeit unterstützen kann. Keine abschließende Einigung wurde bei der Finanzierung des grundsätzlich beschlossenen europäischen Wiederaufbaufonds erzielt. Diese Frage wird daher beim Gipfel am 23. April wieder auf den Tisch der Regierungschefs kommen.

Die Europäische Union wird durch die Corona-Krise und die wirtschaftlichen Folgen in ihren Grundpfeilern erschüttert. Es werden wieder Grenzen errichtet, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer ist gestoppt und sogar der Export von knappen Medizinprodukten war vorübergehend von Deutschland und Frankreich ausgesetzt worden. Einheitliche Regeln, die einen fairen Wettbewerb in der EU zwischen Unternehmen garantierten, wie die Aufsicht über staatliche Beihilfen und Wettbewerbskontrolle, werden angesichts der Krise ausgesetzt. Auch die Defizitgrenzen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes wurden aufgehoben. 

Mitgliedstaaten versuchen, mit nationalen Hilfsprogrammen zur Unterstützung von Unternehmen und Beschäftigten die Krise abzufedern. Während die Bundesrepublik ein massives Programm von über 4 Prozent des BIP beschlossen hat, ist die Kriegskasse anderer Mitgliedstaaten weniger gefüllt. Die bisherigen Hilfsprogramme von Italien, Spanien und Frankreich liegen in der Größenordnung von 1 Prozent des BIP.  Die massiven nationalen Hilfsmaßnahmen sind notwendig, um den wirtschaftlichen Absturz zu verhindern.

Die Solidarität des Binnenmarktes

Ohne ein umfangreiches zusätzliches europäisches Programm, das besonders den von der Krise am stärksten betroffenen Mitgliedstaaten zugutekommt, wird allerdings ein fairer Wettbewerb im Binnenmarkt gefährdet. Durch unterschiedliche nationale Maßnahmen kann z.B. ein deutsches Unternehmen auf staatliche Hilfen zurückgreifen, die seinem italienischen Konkurrenten nicht zur Verfügung stehen.

Auf den Zusammenhang zwischen Binnenmarkt und finanzieller Solidarität zwischen reicheren und ärmeren Mitgliedstaaten hat auch der Vorsitzende der Eurogruppe, der portugiesische Finanzminister Mário Centeno hingewiesen. Auch der Binnenmarkt spiegelt eine Solidarität wider, allerdings eine umgekehrte. Die Solidarität des Binnenmarktes besteht darin, dass in Exportüberschussländern wie den Niederlanden und Deutschland  Arbeitsplätze zulasten der Importländer gesichert werden. 

Damit die EU und ihre Mitgliedstaaten nach Abflachen der Pandemie die Wirtschaftskrise überwinden, müssen jetzt von den europäischen Regierungschefs die Weichen gestellt werden. Es muss verhindert werden, dass die von der Krise besonders betroffenen Mitgliedstaaten und Regionen zurückfallen und dass die Bürgerinnen und Bürger sich enttäuscht von der Union abwenden.

Der europäische Binnenmarkt als Fundament wirtschaftlicher Erholung

Die Hoffnung, dass die Krise schnell durch eine Exportinitiative auf dem Weltmarkt bewältigt werden kann, ist trügerisch. Amerikanischer Protektionismus und chinesische Konkurrenz erzwingen eine realistische Einschätzung. Der Zusammenbruch internationaler Lieferketten und die Abhängigkeit bei lebenswichtigen Produkten von Lieferanten außerhalb Europas haben die Risiken der internationalen Verflechtung aufgezeigt. Der Höhepunkt der Globalisierung ist für Unternehmen überschritten. Der Welthandel wird in absehbarer Zukunft nur noch moderat wachsen.

Deshalb bleibt der europäische Binnenmarkt von 450 Millionen Menschen das Fundament für die wirtschaftliche Erholung. Der europäische Binnenmarkt muss vor dem Auseinanderbrechen bewahrt werden. Damit die Europäische Union wieder aus der Krise herauskommt, damit eine innovative Wirtschaft aufgebaut werden kann, damit der „Green Deal“ realisiert werden kann, sind umfangreiche private und öffentliche Investitionen in allen Mitgliedstaaten notwendig.

Die EU steht vor einer grundlegenden Weichenstellung

Ein europäisches Wiederaufbauprogramm, das allen Mitgliedstaaten zugutekommt, wird angesichts begrenzter staatlicher Mittel einen Rückgriff auf den internationalen Finanzmarkt erfordern. Im Jahre 2017 wurden auf dem internationalen Anleihemarkt mehr als 100 Trillionen Dollar bewegt. Die EU muss durch neue Finanzierungsinstrumente internationalen Anlegern Möglichkeiten anbieten, in den Wiederaufbau Europas zu investieren.  

Neue Finanzierungsinstrumente, welche von der EU garantiert werden, tragen auch zu einer Stärkung des Euro als internationaler Anlage- und Reservewährung bei. Sie stärken die wirtschaftliche Souveränität Europas und verringern die Abhängigkeit vom Dollar. So wird auch die Möglichkeit reduziert werden, die Verwendung des Dollars als politisches Druckmittel einzusetzen. 

Die europäischen Regierungschefs stehen vor einer grundlegenden Weichenstellung. Entweder sie beschließen die notwendigen neuen Instrumente zur finanziellen Solidarität, zur Stabilisierung des Binnenmarktes, zum Aufbau einer zukunftsfähigen Wirtschaft oder sie nehmen eine Renationalisierung der Europäischen Union mit weitreichenden ökonomischen und politischen Folgen in Kauf.

Der Text erschien zuerst im IPG-Jounal.

Autor*in
Gerhard Stahl

ist seit 2014 Professor an der Peking University HSBC Business School und seit 2013 Gastprofessor am Europa-Kolleg in Brügge. Während der Einführung des Euros war er Stellvertretender Kabinettschef des EU-Kommissars für Wirtschaft und Währung, Pedro Solbes.

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