Frankreich, Irland, Luxemburg, Portugal, Finnland, Kroatien und Deutschland haben entschieden, Geflüchtete von den griechischen Inseln aufzunehmen. Das ist das zweite Mal nach dem Notfallmechanismus für Menschen in Seenot vom September des vergangenen Jahres, dass eine Gruppe von EU-Mitgliedsstaaten die Blockade der europäischen Asylpolitik durchbricht und sich zur Aufnahme bereit erklärt. Vielleicht ist das auch der praktisch vorweggenommene Durchbruch für ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem, das derzeit in Brüssel und den Hauptstädten verhandelt wird und während der deutschen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr verabschiedet werden soll. Sollte dies der Fall sein, liegt es an der Überzeugungskraft des Gedankens der Arbeitsteilung.

Die solidarische Verteilung von Geflüchteten auf die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union war nun fünf Jahre lang das bestechende Mantra, das den Menschen auf ihre vielen Fragen zu Flucht und Asyl angeboten wurde. Es gab nur ein Problem: Sie kam nicht zustande. Es gibt gute Gründe, daran festzuhalten, dass zu einem gemeinsamen europäischen Asylsystem die solidarische Verteilung Geflüchteter unter allen Mitgliedsländern gehört. Gleichzeitig muss man handlungsfähig bleiben, wenn dies gerade nicht erreichbar ist.

Solidarität bedeutet nicht notwendigerweise, dass alle das Gleiche tun. Arbeitsteilung erlaubt, unterschiedliche Erfahrungen und Beiträge zu berücksichtigen. Vor allem beendet sie das blame game, in dem sich die einen mit guten Begründungen über die anderen erheben, dabei aber den Graben immer tiefer ziehen, anstatt den Karren wieder flottzubekommen. Die Kommission muss die Beiträge der Mitgliedsstaaten daraufhin prüfen, dass jeder einen gerechten Anteil zu den gemeinsamen Aufgaben beiträgt.

Solidarität kann auch Arbeitsteilung bedeuten

Eine solche Vorgehensweise birgt in den Augen der Skeptiker die Gefahr eines dauerhaften Auseinanderlaufens in Europa. In anderen gesellschaftlichen Bereichen würde man von Spezialisierung sprechen. Allerdings gibt es gerade in Sachen Migration gute Gründe anzunehmen, dass insbesondere den (süd-)osteuropäischen Staaten ihre eigene katastrophale demografische Entwicklung irgendwann bewusst wird und auch sie sich öffnen werden. Dies zumal, da jüngere Generationen mit einem veränderten Mobilitätsverhalten großwerden und so auch Vielfalt anders erleben als Generationen, die entscheidende Jahrzehnte ihres Lebens in Diktaturen festgesetzt waren. Offenheit gegenüber „Fremden“ hat auch bei uns Zeit benötigt und man kann gewiss nicht behaupten, sie wäre schon überall angekommen.

Es geht aber nicht nur um die Verteilung von Geflüchteten. Diese steht idealerweise erst an, nachdem deren Schutzbedürftigkeit festgestellt und die Länder, in denen sie ankommen, im Verhältnis zu den anderen aufnahmebereiten europäischen Ländern überlastet sind. Fünf Punkte, was jetzt zu tun ist:

Erstens benötigt Griechenland personelle, technische und finanzielle Unterstützung, um geordnete Verhältnisse an seinen Grenzen (wieder) herzustellen. Es gibt Regeln, nach denen internationale Grenzen überschritten werden können, und diese sind einzuhalten, bei aller Enttäuschung derjenigen Menschen, denen vorgegaukelt wurde, sie könnten einfach einreisen.

Zweitens sind das Asylrecht und die europäische Konvention zum Schutz Geflüchteter zu gewährleisten. Hierfür kann notfalls dem UNHCR das Mandat erteilt werden. Ein Aussetzen des Asylrechts ist ein Verstoß gegen internationales Recht. Dessen Einhaltung muss gegenüber der griechischen Regierung eingefordert werden. Klar, ein Staat hat die Aufgabe, illegale Grenzübertritte zu verhindern, er muss aber auch legale Einwanderung, unter anderem das Ersuchen von Asyl, ermöglichen.

Drittens braucht es eine unabhängige Kommission, vergleichbar den Wahlbeobachtungsmissionen der OSZE, die Verstöße aufklärt. Seit langem gibt es Berichte von Pushbacks etwa am Grenzfluss Evron oder auf See. Die betroffenen Regierungen dementieren, die anderen Regierungen ziehen sich darauf zurück, keine eigenen Erkenntnisse zu den Vorgängen zu haben. Folglich muss es einen Mechanismus geben, zu diesen Erkenntnissen zu kommen, um dann auf dieser Basis zu handeln.

Viertens müssen in den laufenden Verhandlungen mit der Türkei alle Elemente der EU-Türkei-Vereinbarung zur Zusammenarbeit in der Migration auf den Tisch. Der wichtigste Punkt ist die Sicherheit für Menschen auf der Flucht. Diese war zu keinem Zeitpunkt gewährleistet, da die Türkei ihre Grenzen geschlossen hatte und Flüchtlinge in der Auseinandersetzung der Türkei mit den Kurden zwischen die Fronten gerieten.

Nationen entlasten – auch die Türkei

Hinsichtlich der Versorgung der Geflüchteten in der Türkei bedarf es über die zugesagten sechs Milliarden hinaus weiterer Mittel für die Hilfsorganisationen. Schließlich muss es um Aktivierung der freiwilligen humanitären Aufnahmeprogramme gehen, wie sie in der EU-Türkei-Vereinbarung vorgesehen sind. Die Türkei ist das Land mit den meisten Geflüchteten weltweit und braucht Entlastung. Diese sollte auf sicheren und legalen Wegen erfolgen und zuerst besonders verletzliche Gruppen in den Blick nehmen. Sicherheit, Versorgung und Perspektiven bilden den Dreiklang einer nachhaltigen Politik im Umgang mit Flucht. In allen drei Zielkategorien müssen verlässliche Mechanismen gestärkt werden. Dazu zählt auch die Ausweitung des Abkommens auf weitere Länder, beginnend mit den Mittelmeeranrainern.

Diese Punkte bleiben richtig, auch wenn das Verhalten der türkischen Regierung nur noch als abgründig zu bezeichnen ist: sei es das völkerrechtswidrige Eindringen in Syrien oder die Tatsache, dass Menschen benutzt werden, wie es mit den gut 10 000 geschehen ist, die mit falschen Versprechungen an die griechische Grenze gerbracht wurden. Dass Erdogan im nächsten Atemzug die Wiederaufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen fordert, ist völlig grotesk. Es zeichnet sich ab, dass in diesem Gesamtpaket Geld noch die einfachste Kategorie ist. Die türkische Wirtschaft kann es gut gebrauchen und die europäischen Staaten werden bereit sein zu zahlen, um sich größere Probleme vom Hals zu halten.

Fünftens benötigt Griechenland Unterstützung bei der Versorgung und Unterbringung der Geflüchteten und Beschleunigung der Verfahren. Die Zustände insbesondere auf den fünf ost-ägäischen Inseln sind nicht tragbar und Europas unwürdig. Humanitäre Hilfe, wie wir sie bereits in beachtlichem Umfang leisten, ist wichtig, es muss dabei allerdings auch sichergestellt werden, dass sie ankommt. Die Lager sind völlig überfüllt, miserabel ausgestattet und werden schlecht geführt. Weitere Beamte zu entsenden, die dann vor Ort in eine dysfunktionale Organisation geraten, führt nicht weiter. Die operative Verantwortung zur Leitung der Flüchtlingszentren muss dem UNHCR übertragen werden. Auf der meist belasteten Insel Lesbos sollte die EU-Kommission ein Pilotprojekt für ein europäisches Asylzentrum mit Höchstbelegungszahlen und -aufenthaltsdauer umsetzen, in dem Menschen auf der Flucht ankommen können, versorgt werden, Hilfe und Beratung erhalten, wo schnell und rechtsstaatlich über einen Schutzstatus entschieden sowie die Weiterreise organisiert wird.

Corona-Krise verschärft Flüchtlings-Krise

Kurzfristige Entlastung kann bereits jetzt wirkungsvoll im Rahmen der geltenden Gesetze erfolgen. Dazu zählt vor allem eine unbürokratischere Zusammenführung von Familien über die Dublin-III-Regeln. Ein erneuter Brand im Lager Moria auf Lesbos diese Woche, bei dem mindestens ein Kleinkind verstarb, zeigt noch einmal überdeutlich die Notwendigkeit, ohne weitere Verzögerung zu handeln.

Die Sorgen um das Coronavirus verschärfen die Situation zusätzlich. Weltweit geht es nun darum, die Kontaktdichte unter Menschen zu verringern. Das ist in überfüllten Lagern unmöglich. Geflüchtete haben die gleichen Menschenrechte. Auch sie müssen sich selbst schützen können. Sie müssen daher umgehend auf das griechische Festland gerbracht werden. Die Zusagen europäischer Länder, Griechenland zu entlasten und Geflüchtete zu übernehmen, müssen weiter erhöht werden. Dazu muss mit der vorherrschenden „Denklogik“ gebrochen werden, wonach zusätzliche Hilfsbereite bedeuten, dass jeder einzelne weniger helfen muss. Wir lernen doch gerade wieder: Je mehr helfen, desto mehr Hilfe ist möglich.

Jetzt muss es vor allem schnell gehen. Auch wenn die Welt gerade von anderen Themen in Atem gehalten wird und katastrophale Zustände anderswo mit gleichem Recht unsere Aufmerksamkeit erfordern. Doch es ist auch ein guter Grundsatz, Hilfe zunächst dort zu geben, wo sie auch erreichbar ist. Mit Blick auf die griechischen Inseln ist nun alles startklar: Mehrere europäische Länder stehen bereit, Bundesländer, Städte und Gemeinden ebenso. Gehen wir den ersten Schritt, dem weitere folgen müssen.