Russland und EU: Warum Visaerleichterungen gerade jetzt sinnvoll wären
Im Juni 2010 auf dem EU-Russland-Gipfel diskutierten die Staats- und Regierungschef*innen Russlands und der EU über Wege der Annäherung zwischen Russland und Europa und über Möglichkeiten der visumfreien Reisen von Russ*innen und Europäer*innen. Damals schien es vielen, dass nur sehr wenig Zeit vergehen und eine Zukunft eintreten würde, in der sowohl Russ*innen als auch Europäer*innen die Grenzen Russlands und des Schengen-Raums ohne Visum passieren können, frei von der Bürokratie, die durch die Visabeantragung und die dazu erforderliche Sammlung von Bescheinigungen über die finanzielle Bonität verursacht wird.
Unterschiedliche Wege in der Visaliberalisierung
Zehn Jahre sind um. Zehn Jahre, in denen sich vieles geändert hat und vieles unverändert geblieben ist. Russland ist kein strategischer Partner mehr für die EU, und das Thema der Visaliberalisierung zwischen der EU und Russland ist von der gemeinsamen politischen Agenda verschwunden. Hinsichtlich der Visaliberalisierung beschreiten heute die EU und Russland unterschiedliche Wege.
Russland liberalisiert seit mehreren Jahren die Visaregelung für Ausländer*innen. Russland hat diesen Ansatz bereits während der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 ausgetestet, als Ausländer*innen ohne Visum mit einem Fan-Pass und einer Eintrittskarte für eine Sportveranstaltung nach Russland einreisten. Derzeit können Ausländer*innen mit einem einfachen E-Visum den fernöstlichen Föderalen Bezirk, Kaliningrad und St. Petersburg besuchen. Ab dem 1. Januar 2021 werden Staatsangehörige von 53 Staaten, einschließlich der EU, mit einem elektronischen Visum zum Zwecke des Tourismus und der privaten Besuche nach Russland einreisen können. Das Formular für das russische E-Visum wird man vier Tage vor der Einreise auf der Website des Außenministeriums des Landes ausfüllen können. Wenn es soweit ist, wird Russland zu einem der Länder mit einem sehr liberalen Einwanderungsregime.
Russland ist ein europäisches Land
Russland war und bleibt ein europäisches Land. Wie aus einer aktuellen Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung hervorgeht, zählt sich ein Fünftel der russischen Jugend, Russlands Generation "Z", zu Europäern. Der Anteil der jungen Russ*innen, die sich als Weltbürger*innen und Europäer*innen betrachten, ist unter denjenigen höher, die bereits ins Ausland gereist sind. Das moderne Russland besteht nicht nur aus Anhänger*innen der Krim-Annexion und der Völkerrechtsverletzung, sondern hier leben auch Tausende von Menschen, die offen eine Petition gegen Änderungen an der aktuellen Verfassung des Landes unterzeichnet haben.
Es ist sehr gut, dass es bereits einzelne gemeinsame Initiativen in Richtung einer Liberalisierung des Visaregimes gibt. Im Mai 2019 veröffentlichten deutsche und russische Jugendorganisationen ein Memorandum über die Abschaffung von Visa für Teilnehmer*innen von Jugendaustauschprogrammen. Im Januar 2020 eröffneten Vertreter*innen der Zivilgesellschaft im EU-Parlament eine Diskussion darüber, wie Vertreter*innen von Menschenrechtsorganisationen auf Einladung von europäischen NGOs sowie von EU- und Europarat-Institutionen, die sich mit dem Schutz der öffentlichen Interessen und der Menschenrechte befassen, visafreie Einreise in die EU-Mitgliedstaaten gewährt werden kann. Dies sind sehr wichtige Richtungen für die Liberalisierung der Visaregelung der EU und Russlands, diese Arbeit sollte fortgesetzt und als vorrangiges Ziel betrachtet werden.
Visa-Liberalisierungen für bestimmte Gruppen möglich
Im Jahr 2013, vor der Krim-Annexion, erhielten russische Bürger*innen sieben Millionen Schengen-Visa. 54 Prozent davon waren Mehrfacheinreisevisa, und der Anteil der Ablehnungen von Visumanträgen betrug nur 1,4 Prozent. Im Jahr 2019 wurden den Russ*innen vier Millionen Schengen-Visa ausgestellt, das sind 43 Prozent weniger als 2013. Gleichzeitig gewährten 82 Prozent der ausgestellten Visa die Möglichkeit der mehrfachen Einreise. Das Niveau der Ablehnungen blieb mit 1,5 Prozent unbedeutend. Der Rückgang der Zahl der ausgestellten Schengen-Visa bedeutet nicht, dass die EU ihre Visapolitik gegenüber Russland verschärft hat. Die Gründe für diese negative Dynamik liegen in den Prozessen, die in Russland selbst und nicht außerhalb Russlands ablaufen. Der Rückgang des Interesses an Reisen in die EU-Länder ist auf die Verschärfung der russischen Gesetzgebung bezüglich der Ausreisebestimmungen für bestimmte Bevölkerungsgruppen und den Rückgang des Lebensstandards der Russ*innen zurückzuführen.
Es gibt viele Möglichkeiten, wie die EU einerseits ihre Position wegen der Verstöße Russlands gegen das Völkerrecht und der Krim-Annexion bewahren, das EU-Sanktionsregime aufrechterhalten und andererseits der russischen Gesellschaft die demokratischen und menschenrechtlichen Werte näherbringen könnte, indem sie die EU-Länder für russische Bürger*innen zugänglicher macht. Die EU und die EU-Mitgliedstaaten könnten bi- oder multilaterale visafreie Programme für alle oder bestimmte Gruppen von Russ*innen, wie z.B. Jugendliche unter 25 Jahren, Menschen über 65 und Menschenrechtsaktivist*innen, einführen. Zugleich wären russische Staatsangehörige, deren Pässe von Russland in den Gebieten der nicht anerkannten Staatsgebilde – Abchasien, Transnistrien, Südossetien sowie in den Gebieten der Ostukraine und der Krim – ausgestellt wurden, aus der Visaliberalisierung ausgeschlossen.
Direkte Kontakte als Brücke in Krisenzeiten
Keine Diskussion über die Zukunft der Visaregelung zwischen der EU und Russland kann losgelöst von den gegenwärtigen, sehr komplizierten Beziehungen zwischen den beiden Parteien verlaufen. Man kann nicht umhin, die grundsätzlichen Unterschiede, die in den Institutionen und Regierungseliten Russlands und der EU bestehen, in ihrer Wahrnehmung der völkerrechtlichen Verpflichtungen, als einen erschwerenden Faktor anzusehen. All diese Umstände sollten jedoch nicht notwendigerweise zu einem unüberwindlichen Hindernis für die Erzielung von Kompromissen über gegenseitige Visaerleichterungen werden. In der Krisenzeit könnten direkte Kontakte zwischen Russ*innen und Europäer*innen genau zu der Brücke werden, die Länder, Städte, Menschen und unsere gemeinsamen Interessen verbinden könnte.
Mehr zu diesem Thema finden Leser auf der Web-Seite des EU-Russland Zivilgesellschaftsforums https://eu-russia-csf.org/.
hat in Migrationsrecht promoviert und ist Direktorin und Gründerin von RUSMPI, dem Institut für Migrationspolitik in Berlin. Zudem ist sie Co-Vorsitzende der AG Migration und Vielfalt der SPD Steglitz-Zehlendorf.