Meinung

Nils Heisterhagen: Linker Realismus ist der Weg für die Sozialdemokratie

Wer primär Feuilleton liest, versteht das Land nicht, schreibt der Publizist Nils Heisterhagen in einem Gastbeitrag. Er fordert „linken Realismus“ als Weg für die Sozialdemokratie.
von Nils Heisterhagen · 1. Juli 2019
Buchautor Nils Heisterhagen: Die Sozialdemokratie brauche einen linken Realismus.
Buchautor Nils Heisterhagen: Die Sozialdemokratie brauche einen linken Realismus.

Was hat die SPD und das Land nicht zuletzt an überhitzten Diskussionen erlebt. Sozialismus, Migration, Groko, Klima. „Überhitzt“ ist eine gute Umschreibung. Es fehlt unserer politisch-medialen Kultur gerade an Sachlichkeit und kühlem Kopf. Wir haben zu viel Empörung und Reizungen im öffentlichen Diskurs.

Sachlich über Migration diskutieren

Bei keinem anderen Thema wird das deutlicher als beim Thema Migration. Aber wie kommt man hier beispielgebend aus der Erregung heraus? In dem man weniger darüber redet, ob man Migration für gut oder schlecht hält, sondern darüber spricht, wie man sie besser steuert und welche Einwanderung man will. Das ist eigentlich selbstverständlich. Nur anno 2019 nicht in Deutschland.

Was ist da in unserer medial-politischen Öffentlichkeit eigentlich schief gelaufen? Ist es wirklich so schwer, politische Debatten auf die Ebene konkreter Vorschläge zu bringen und dann darüber zu diskutieren – ja auch leidenschaftlich zu streiten? Warum soll die Leidenschaft nur für Moral und Anti-Moral, nur für Ja oder Nein gelten? Wo sind wir als aufgeklärte Nation eigentlich hingekommen? Sind unsere Politiker nicht fähig genug oder die mediale Öffentlichkeit im Sinne des Politikwissenschaftlers Colin Crouch eine postdemokratische PR-Show geworden, wo Politikdarstellung wichtiger wurde als Politikherstellung – und damit Kommunikation wichtiger als konkrete Ergebnisse? Warum dominiert Weltbildpolitik so stark?

„Wir hier“ gegen „Die da“

Die neue Weltbildpolitik des „Wir hier“ und „Die da“, dieses Einteilen in Lager, diese schwarz-weiß Wertepolarisierung, dieses Emotionalisieren und Empören, dieses Vereinfachen und schablonenartige Produzieren von Stereotypen, das Angstmachen und das Beleidigen, diese Weltbildpolitik aus vielen politischen Richtungen polarisiert jedenfalls mehr als alles andere. Das ist gar keine Politik. Für sie bräuchte es auch gar keine Politiker. Wir könnten als Bürger einfach bestimmten Publizisten folgen und alles liken, was diese so schreiben. Die Publizisten tragen den Weltbilderkonflikt dann aus. Politiker bräuchte es dafür nicht.

Es gibt aber grundsätzliche Probleme mit dieser Art von Politik. Sie konstruiert fundamentale Gegensätze statt sich um Integration von Werten und Ideen zu bemühen. Diese Gegensatzkonstruktion ist ein Fehler. Täte man das nicht, so könnte man auch sehen, dass so eine Arbeit der Integration auch Früchte tragen kann. Die Vergeblichkeit von gesellschaftspolitischer Einheit zu verkünden und in der Polarisierung dann nur noch die Entscheidung für eine Seite zu fordern, ist halt auch eine ziemlich leichte Sache. Man könnte auch von intellektueller Faulheit reden.

Die Probleme liegen vor den Füßen

Bei einem schwierigen Medienmarkt sind die besten Werte-Polarisierer zwar die Klick-Weltmeister. Empörung und Echauffieren funktioniert heute ziemlich gut. Aber das ist eher ein Spiel der Meinungselite mit sich selbst. Dem durchschnittlichen Wähler ist dieser Meinungskampf um Deutungshoheit nämlich weitgehend egal – mit Ideologen und Dogmatikern kann er ohnehin selten etwas anfangen.

In der Regel sieht der durchschnittliche Wähler Probleme und spürt Entwicklungen und Trends, auf die er gerne Antworten will. Der durchschnittliche Wähler begeistert sich nicht für irgendwelche Meta-Debatten. Oder in Anlehnung an Karl Marx gesprochen: Die Probleme liegen ihm vor den Füßen und sollen da weg. Der durchschnittliche Wähler spürt weltpolitische und wirtschaftliche Trends und Entwicklungen und verlangt dazu kluge Lösungen. Natürlich wäre es sehr wünschenswert und für das Land besser, wenn der „normale Bürger“ mehr dem Ideal eines Citoyens entsprechen würde, der leidenschaftlich für Politik brennt und für das Gemeinwohl kämpft. In der Regel würde dieser Citoyen aber selbst dann keine Meta-Debatten führen, sondern anhand konkreter Fragen und Herausforderungen sich politisch engagieren.

Wer Feuilleton liest, versteht das Land nicht

Jedenfalls ist es so, dass der normale Familienvater und die alleinerziehende Mutter in der Regel weder von irgendwelchen Angstgefühlen befallen sind, dass sich der Diskurs nach rechts dreht, noch verkämpfen sie sich, so wie rechtspopulistische Akteure es tun, gegen eine linksliberale Meinungshegemonie. Es ist auch nicht so, dass das Feuilleton das alltägliche Bewusstsein des deutschen Durchschnittsbürgers umtreibt.

Das Motto des Ex-Kanzlers Gerhard Schröder „Zum Regieren brauche ich BILD, BamS und Glotze“ hat daher zum Beispiel etwas sehr intuitiv Richtiges. Nämlich sich nicht in der Abstraktion und in geisteswissenschaftlicher Feinheit zu verlieren. Man muss die Einschlägigkeit der „Bild“ nicht befürworten und ihre Agenda nachplappern, aber wer primär Feuilleton liest und Kultursendungen sieht, der versteht das Land nicht. Denn so ist der normale Bürger nicht. Der durchschnittliche Bürger ist pragmatischer und weit entfernt von der Intensität und Bedeutungsschwere politischer Kämpfe, so wie sie in Twitterdebatten der politischen Elite vorkommen oder manchmal eben hoch elaboriert im Feuilleton geführt werden.

Die SPD sollte Politik für kleine Leute machen

Was bedeutet das nun alles für die SPD? Wie muss sie mit dieser neuen medial-politischen Diskurslage umgehen? Die Interessen von Menschen sind nicht so übertrieben komplex, undurchsichtig und vielschichtig, wie ihnen das Essays von Intellektuellen und geschwungene Sonntagsreden von Politikern manchmal vorgaukeln. Wenn doch die Spitzenfunktionäre der SPD dahin kämen, sich von dem leiten zu lassen, was einst „gesunder Menschenverstand“ hieß und sie ihr ganzes Streben anhand von Alltagsproblemen ganz gewöhnlicher Menschen – vor allem derer aus der unteren und mittleren Mittelschicht sowie den kleinen Leuten – ausrichten, dann hätten sie wieder eine Chance.

Der Juso, der sich geschliffen ausdrücken kann, ein langes Studentenleben geführt hat oder sonst seit seinen jüngsten Erwachsenen-Jahren daran arbeitet, eine Parteikarriere zu starten, ist jedenfalls nicht der, den wir in ein paar Jahren an der Spitze brauchen. Es ist zum Beispiel der Juso, der als Betriebsrat aus der betrieblichen Realität kommt. Linke Realisten braucht die SPD und das Land. Es braucht diese linken Realisten vor allem bald, weil Deutschland umfangreiche Hausaufgaben zu bewältigen hat.

Reformen stehen bevor

Zu lange wurde das Land nur verwaltet. Aber man muss wissen: Reformen sind harter Aufwand. Sie gefallen nicht jedem. Da kracht es und tut es weh. Die Ehre der Reform ist zudem seit Langem zerstört. Das hat auch mit Gerhard Schröders wenig erklärten, halbgaren und zu schnell implementierten Brachialreformen des Sozialsystems zu tun. Angela Merkel hat dann in den Jahren ihrer Kanzlerschaft weitgehend Reformruhe herrschen lassen – und konnte sich das lange bei stabiler Konjunktur leisten.

Aber schon bald wird es mit der wohligen Alles-Läuft-Mentalität vorbei sein. Die Abkühlung der Konjunktur und eine nötige Reform der Ökonomie wird dabei nicht das einzige sein, worauf wir uns einstellen und die wir angehen müssen. Auch die Migration bleibt ein Thema. In diesem Fall hatte Wolfgang Schäuble recht. Die Zuwanderung ist ein „Rendezvous unserer Gesellschaft mit der Globalisierung“. Die Globalisierung bleibt. So auch die Frage der Migration. Darauf brauchen wir sachorientierte Antworten und einen Umgang mit einem kühlen Kopf. Erregungsspiralen bringen uns nicht weiter. Linker Realismus ist der Weg für die Sozialdemokratie.

Autor*in
Nils Heisterhagen
Nils Heisterhagen

ist Sozialdemokrat und Publizist. „Sein neues Buch „Verantwortung“ ist gerade im Dietz-Verlag erschienen.

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