Meinung

Nicht alles war und ist schlecht in Afghanistan

Vor einem Jahr haben die Taliban die Macht in Afghanistan wieder übernommen. Viele Fragen um den Einsatz der Bundeswehr warten noch auf Antworten. Klar ist: Deutschland darf Afghanistan und seine Menschen nicht im Stich lassen.
von Ralf Stegner · 14. August 2022
Menschen in Kabul im August 2022: Zu wenig mit den Menschen in Afghanistan auseinandergesetzt.
Menschen in Kabul im August 2022: Zu wenig mit den Menschen in Afghanistan auseinandergesetzt.

„Nichts ist gut in Afghanistan“ – das sagte die damalige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann 2010 überspitzt über die Situation im Land. Es mussten allerdings noch gut zehn Jahre vergehen, bis die Öffentlichkeit tatsächlich nach Afghanistan schaute. Am 15. August 2021 übernahmen die radikalislamischen Taliban in der Hauptstadt Kabul endgültig die Macht. Die dramatischen Bilder, die dort in den darauffolgenden Tagen entstanden, gingen um die Welt: Darauf zu sehen sind Menschen, die sich panisch an Flugzeugen festklammerten. Die Machtübernahme löste eine Massenflucht aus, ehemalige Regierungsbeamte und Journalist*innen versteckten sich, Ortskräfte setzten Hilferufe ab. Frauen und Mädchen konnten nicht mehr alleine auf die Straße gehen.

Afghanistan ist in den Hintergrund gerückt

Heute, ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban, hat sich die Lage in Afghanistan weiter verschlechtert. Das Land steckt in einer schweren Wirtschaftskrise, die Menschen leiden unter einer anhaltenden Dürre, den Folgen eines schweren Erdbebens und einer wachsenden Hungersnot. Deutschland engagiert sich zwar weiterhin substantiell im Rahmen humanitärer Hilfe und der Basisversorgung, die umfangreiche Unterstützung Afghanistans in den Bereichen Entwicklungszusammenarbeit und Stabilisierung wurde nach der Machtübernahme jedoch ausgesetzt und ein Dialog mit den Taliban findet international wenig politische Befürworter*innen.

Die Rettungsaktionen für schutzbedürftige Afghan*innen verlaufen gleichzeitig stockend und werden oftmals durch die Taliban behindert. Trotzdem schien das Leid der Menschen in Afghanistan in den letzten Monaten fast vergessen. Neben dem Ukraine-Krieg, Inflation und der Pandemie ist ihre Situation in der öffentlichen Wahrnehmung in den Hintergrund gerückt.

Die Evakuierung muss aufgearbeitet werden

Das darf nicht sein. Nach dem mehr als 20 Jahre dauernden amerikanischen NATO-Truppeneinsatz, an dem sich auch Deutschland beteiligt und mit zahlreichen Ortskräften zusammengearbeitet hat, ist es unsere Verantwortung, die Menschen in Afghanistan nicht im Stich zu lassen. Neben humanitärer und finanzieller Hilfe muss zudem aufgearbeitet werden, wie es überhaupt zu einer derart verspäteten und chaotischen Evakuierungsaktion kommen konnte.

Schließlich wurde der US-Truppenabzug bereits im Februar 2020 unter Donald Trump im Doha-Abkommen beschlossen. In diesem Abkommen wurde festgelegt, dass die US-Truppen das Land bis April 2021 verlassen. Vertreter*innen der Deutschen Botschaft in Kabul warnten zudem frühzeitig davor, dass die Taliban die Stadt anschließend schnell erobern könnten. Deutschland aber auch andere Regierungenlagen mit der Einschätzung der Situation in Afghanistan somit völlig falsch. Oder es wurde wider besseres Wissen gehandelt. Die Gründe für dieses Fehlverhalten müssen schnellstmöglich aufgeklärt werden.

Was der Untersuchungsausschuss leisten soll

Dafür haben wir im Koalitionsvertrag gemeinsam mit der Union einen Afghanistan-Untersuchungsausschuss vorgesehen, dessen Leitung ich übernehme und der noch vor der Sommerpause seine Konstituierung vorgenommen hat. Im Zentrum der Untersuchung steht dabei die Frage, weshalb die Evakuierungsaktion des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personenkreise derart spät und bis heute unvollständig abgelaufen ist. Gemeinsam mit elf anderen Abgeordneten sowie zwölf Stellvertreter*innen werden wir im Ausschuss anhand von 38 Punkten den Untersuchungsauftrag bearbeiten. Darin geht es unter anderem um die damalige Beurteilung der Sicherheitslage in Afghanistan durch Bundesministerien, Bundesbehörden und Nachrichtendienste und das Zusammenwirken mit ausländischen Stellen und Nachrichtendiensten.

Dabei steht weniger die Suche nach Schuldigen im Mittelpunkt der Untersuchung. Die politischen Verantwortlichen sind ohnehin nicht mehr im Amt. Vielmehr bemühen wir uns um konkrete Ergebnisse und Handlungsempfehlungen, die auch für zukünftige Auslandseinsätze wichtig sind. Diese wollen wir spätestens nach der parlamentarischen Sommerpause 2024 vorlegen. Das schulden wir nicht nur den Beteiligten in Afghanistan und ihren Angehörigen, sondern auch der Öffentlichkeit. Da wir uns als politischer Untersuchungsausschuss nur auf das letzte Jahr des Afghanistan-Einsatzes konzentrieren, wird es zudem eine Enquetekommission unter dem Vorsitz von Michael Müller geben, die den 20-jährigen Einsatz anhand von wissenschaftlichen Methoden untersuchen wird. Hier sollen dann auch Fragen der Zielsetzung kritisch überprüft werden.

Zu wenig mit dem Land und seinen Menschen beschäftigt

Denn wir müssen uns auch fragen, inwieweit das Nation Building nach westlichem Vorbild in Afghanistan überhaupt richtig war.

Nicht alles war und ist schlecht in Afghanistan. Es wurde die Infrastruktur verbessert, Schulen gebaut, Projekte für Frauen und Mädchen initiiert.

Aber können wir einem Land mit einer eigenen Kultur und Tradition westliche Werte überstülpen? Möglicherweise war die von uns unterstützte Zentralregierung in Afghanistan, in dem einzelnen Regionen, Stammesgesellschaften, Kriminalität, Korruption und Warlords eine hohe Bedeutung zukommt, auch nicht die geeignete Regierungsform. Derartige Fragen hätten sich Deutschland und die USA stellen müssen. In jedem Fall lehrt uns der Afghanistan-Einsatz, dass wir uns zu wenig mit dem Land und seinen Menschen auseinandergesetzt haben.

Autor*in
Ralf Stegner
Ralf Stegner

ist Vorsitzender des Afghanistan-Untersuchungsausschusses im Bundestag.

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