Mögliche Kandidatur von Nancy Faeser: Die scheinheilige Kritik der CDU
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Mal angenommen, die Medienberichte stimmen, wonach Nancy Faeser auch als Spitzenkandidatin für die hessische Landtagswahl Bundesinnenministerin bleiben will. Wo ist das Problem? Die Frage lässt sich recht einfach beantworten: Bei den Gedächtnislücken von vor allem Grünen und Unionsleuten, die jetzt von einer „Teilzeitinnenministerin“ fabulieren.
Denn viele Politiker*innen haben und hatten mehrere Funktionen inne, ohne eine ihrer Aufgaben zu vernachlässigen. War Helmut Kohl zum Beispiel zu Zeiten der deutschen Wiedervereinigung Teilzeitkanzler, nur weil er auch CDU-Vorsitzender war? Wir wollen es nicht hoffen – oder gibt es in der Union da Zweifel? Dann hätten wir das gerne geklärt. Gleiches gilt für Angela Merkel zu Zeiten der Finanzkrise 2008 oder während der Flüchtlingszuwanderung 2015.
Auch Habeck hatte eine Doppelfunktion
Schaut man sich bei den Grünen, die ja großen Wert auf die strikte die Trennung von Amt und Mandat legten, in Sachen Doppelfunktion um, ist die messerscharfe Trennung inzwischen auch obsolet. Denn nachdem Robert Habeck auf dem Parteitag im Januar 2018 zum Bundesvorsitzenden neben Annalena Baerbock gewählt worden war, wurde die Unvereinbarkeit von Bundesvorstand und Ministeramt deutlich entschärft, um Habeck eine Übergangszeit von acht Monaten als schleswig-holsteinischer Umwelt- und Landwirtschaftsminister zu ermöglichen. Kein Landtagswahlkampf dauert so lange!
Aber kommen wir zurück zu Union, deren Vertreter*innen offenbar auch mit Erinnerungslücken zu kämpfen haben.
Oberbürgermeister, Umweltminister, Ministerpräsident
Denn ausgerechnet die hessische CDU hatte gleich zwei Politiker, die aus ihrem (damals noch Bonner) Ministeramt heraus, Spitzenkandidaten im Landtagswahlkampf waren: Der erste ist 1987 Walter Wallmann. Wallmann wurde nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl als erster Bundesumweltminister von Helmut Kohl in sein Kabinett geholt – nach Tschernobyl eine wahrhaft herausfordernde Aufgabe für den bis dato Frankfurter Oberbürgermeister.
Doch nur wenige Monate später führte er als Bundesumweltminister und Spitzenkandidat der hessischen CDU einen erfolgreichen Wahlkampf und wurde zum Ministerpräsidenten des Bundeslandes ernannt. Hat Wallmann als Bundesumweltminister nach dieser atomaren Katastrophe, die auch in Deutschland ganze Landstriche radioaktiv belastete, etwa in Teilzeit gearbeitet?
Bundeskabinett, Wahlkampf und zurück
Das zweite CDU-Beispiel ist acht Jahre später Manfred Kanther. Ein strammer Rechtsaußen, Bundestagsabgeordneter, bis ihn 2000 die CDU-Spendenaffäre einholte und fünf Jahre (von 1993 bis 1998) Bundesinnenminister in der Regierung von Helmut Kohl. Zwischendurch war auch Kanther nicht nur Bundesinnenminister, sondern zugleich Spitzenkandidat der hessischen CDU im Landtagswahlkampf 1995. Sein Amt führte er währenddessen ungerührt weiter und blieb es auch, als er nicht Ministerpräsident wurde.
Oppositionsführer in Hessen wurde ein gewisser Roland Koch, und Kanther kommentierte das mit den Worten „Oppositionsführer war ich schon.“ Die konservative „Welt“ schrieb damals: „Es wäre… ziemlich unsinnig gewesen, den in seinem Amt tüchtigen Bundesinnenminister Manfred Kanther nur um eines formalen Prinzipes willen nach der verlorenen Hessenwahl auf den Stuhl des Oppositionsführers in Wiesbaden zu verfrachten.“
Röttgen taugt nicht als Vergleich
Dem ist wenig hinzuzufügen. Deswegen nur der Vollständigkeit halber: Auch der in diesen Tagen vielfach angeführte Norbert Röttgen wurde 2012 nicht daran gehindert, dass er als Spitzenkandidat der NRW-CDU Bundesumweltminister blieb. Dass Angela Merkel ihn nach der krachend verlorenen Wahl aus ihrem Kabinett entließ, hatte andere Gründe. Ihn als Vergleich mit Faeser anzuführen ist folglich unpassend.
Fazit: Für die Union war es nie ein Problem, dass Spitzenkandidaten (es waren nur Männer) bei Landtagswahlen auch Bundesminister waren. Manche waren erfolgreich, andere nicht. An diese Fakten sollten sich alle Politiker*innen bei ihrer Kritik an der landes- und bundespolitisch hocherfahrenen Nancy Faeser erinnern. Alles andere wäre billiges Wahlkampfgetöse oder gar verlogen.
Wie auch immer die Entscheidung von Nancy Faeser ausfallen wird, es gibt keinen Grund zur Sorge. Und so können wir ganz entspannt abwarten, was sie sich zutraut.
ist Chefredakteurin des "vorwärts" und der DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik sowie Geschäftsführerin des Berliner vorwärts-Verlags.