Mehr Demokratie wagen: Schafft das Delegiertenprinzip ab!
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„Mitglieder wollen entscheiden, nicht nur Beiträge zahlen.“ Diese Aussage stammt aus den zwölf Thesen zur Erneuerung der SPD von Sigmar Gabriel aus dem Jahr 2010. Seitdem hat sich wenig getan, offenbar hat die Partei bisweilen leider ein Umsetzungsproblem. Wir müssen uns aber darüber im Klaren sein, dass Schicht im Schacht ist, falls sich in dem jetzigen Erneuerungsprozess wieder die strukturkonservativen Kräfte durchsetzen. Deshalb hat Lars Klingbeil Recht, wenn er fordert, dass die SPD sich „radikal verändern“ muss.
Gute Absichten, wenig Taten
Sein Heimathafen, der Heidekreis in Niedersachsen, ist hier mit gutem Beispiel voran gegangen und hat u.a. auf den Parteitagen des Unterbezirks das Delegiertenprinzip zu Gunsten von Mitgliederversammlungen abgeschafft. Auf dem Debattencamp war zu hören, dass dies auch in einigen anderen – interessanterweise vorwiegend ländlichen – Unterbezirken/Kreisen gang und gäbe ist. Aus München hört man inzwischen von ähnlichen Ideen und die Jusos auf Bundesebene sind sowieso dafür.
Soweit ersichtlich gibt es auch bei den Grünen auf den unteren Ebenen in der Regel kein Delegiertenprinzip. Und z.B. die FDP Hamburg hat dies im Jahr 2013 ebenfalls so beschlossen. Aus der CDU hat sich Diana Kinnert für die Abschaffung ausgesprochen. Der Parteivorstand der SPD hat sich zum in seinem Leitantrag zum Wiesbadener Parteitag im April 2018 auch klar pro organisatorische Erneuerung positioniert: „Die SPD wird stark, wenn sie eine neue Debattenkultur entwickelt, … und mehr Mitglieder einbindet. Wir ermutigen alle Gliederungen, neue Wege der Parteiarbeit zu beschreiten.“ Ein Vorstandsbeschluss vom 27. November 2017 enthält ebenfalls viele richtige und mutige Ansätze. Von einer tatsächlichen Umsetzung dieser ehrgeizigen Ziele ist aber momentan noch zu wenig zu sehen.
Das strenge Delegiertenprinzip ist nicht mehr modern
Das Bedürfnis nach mehr Transparenz und Beteiligung ist weder links noch rechts, sondern schlicht modern. Eine verantwortungsbewusste Führung wird weiterhin akzeptiert und gewünscht, aber zu viel Hinterzimmer und Basta sind nicht mehr zeitgemäß. Die technische Entwicklung ermöglicht es, sich im Netz umfassend zu bestimmten Themen zu informieren, die eigene Meinung kundtzutun und dort schnell viele andere Menschen zu erreichen.
An diese – letztlich gar nicht mehr so neue – Entwicklung müssen sich selbstverständlich auch die Parteien anpassen und im Ergebnis die Rechte ihrer Mitglieder stärken. Das Mitmach-Angebot der SPD an aktive (neue) Mitglieder kann aber – übertrieben formuliert – im Jahr 2019 nicht ernsthaft lauten: Wenn Du herausgefunden hast, wo sich der Ortsverein trifft, dann kannst Du gern mal vorbeikommen. Alle zwei Jahre kannst Du den Vorstand und die Delegierten mitwählen. Und wir suchen übrigens noch Verstärkung beim Zettel-Verteilen.
Parteiengesetz: Delegiertenprinzip nur als Ausnahme
Das Parteiengesetz beschreibt in Paragraf 1 die Aufgaben der Parteien. Leider ist von der darin angestrebten „aktiven Teilnahme der Bürger am politischen Leben“ und der „lebendigen Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen“ zu wenig zu spüren. In der Zeit der Kanzlerschaft von Angela Merkel ist die Demokratie in die Krise geraten, was u.a. auch mit ihrer Person und ihrer Strategie zusammenhängt. Das heute weit verbreitete Delegiertenprinzip ist im Parteiengesetz nur als Ausnahme genannt. Das regelhafte Organ einer Partei und ihrer Gebietsverbände ist, neben dem Vorstand, ausdrücklich die Mitgliederversammlung, Paragraf 8 Abs. 1 Satz 1 PartG. Nach Satz 2 kann lediglich durch Satzung bestimmt werden, dass an deren Stelle eine Vertreterversammlung tritt.
In Zeiten der allgemeinen Politik- und Parteienverdrossenheit sollten wir, jedenfalls auf den unteren Ebenen (wo dies praktikabler ist), wieder zum gesetzlichen Regelfall, d.h. der Entscheidung durch Mitgliederversammlung, zurückkehren. Mittelbar sollten wir dabei auch die – viel zu vielen – Nichtwähler im Blick haben, die kein Vertrauen mehr in die Politik haben, wirtschaftlich/räumlich abgehängt sind oder sich nicht anerkannt und machtlos fühlen. Deren Vorurteile über den angeblich nicht vorhandenen Einfluss „einfacher“ Mitglieder von Parteien sollten wir nicht auch noch teilweise bestätigen.
Mit der Abschaffung des Delegiertenprinzips wäre der positive Nebeneffekt verbunden, dass Abstimmungen dann nicht mehr so ohne weiteres (ggf. durch Absprachen) kontrollierbar wären. Und die Parteien würden davon insgesamt profitieren, wenn jemand, der inhaltlich etwas bewegen will oder ein Amt anstrebt, sich den – vielfältigen – Mitgliedern stellen und unter ihnen eine Mehrheit finden muss.
Die SPD muss wieder mehr Demokratie wagen
Die SPD wird vielfach als altbacken, zu mutlos und wenig vital angesehen. Wir müssen alle daran arbeiten, dass dieses öffentliche Bild zügig besser wird. Back to the roots! Wir sind doch die Partei, die mit dem Slogan „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ vor langer Zeit mal sehr erfolgreich war und viele Menschen begeistert hat. Wir brauchen weniger strenge Hierarchien und mehr Debatte, an deren Ende dann ein vernünftiges Ergebnis steht, das von einer (breiten) Mehrheit getragen wird. Wenn es gut läuft, kann dies letztlich auch zu einer erhöhten öffentlichen Wahrnehmung der SPD führen.