Meinung

Keine Angst vor Moral in der Politik!

Der politischen Linken in Deutschland geht es mehr um Haltungsfragen, statt um Realpolitik, hatte Publizist Nils Heisterhagen im vorwärts-Interview kritisiert. Politiker*innen werden immer von Werten geleitet – und das ist auch richtig so, kontert Ferike Thom.
von Ferike Thom · 29. Mai 2020
Werte oder Realpolitik? Am besten beides, meint Ferike Thom.
Werte oder Realpolitik? Am besten beides, meint Ferike Thom.

Moral ist die Gesamtheit von Werten. Moral ist ein Maßstab des Handelns. Aus gemeinsamen Wertvorstellungen kommt gemeinsames Handeln, z.B. in Parteien. Und aus unterschiedlichen Moralvorstellungen entstehen Konflikte, z.B. zwischen Parteien. Jeder Vorschlag im politischen Raum ist geprägt von darunterliegenden Werten. Auch die von Nils Heisterhagen. Seine Kritik am „Moralismus“ ist deswegen nur eine Kritik an Vorschlägen, die er nicht teilt. Er argumentiert dafür, dass sich die SPD „wieder“ auf Themen wie Wirtschaftswachstum, Beschäftigungspolitik etc. konzentrieren solle. Was heißt das?

Politiker*innen werden von Werten geleitet

Eines vorweg: Ich sehe nicht, dass materialistische Themen der SPD abhandengekommen sind. Der Mindestlohn, der Beschluss zur Erhöhung von diesem, die Abschaffung von Sanktionen bei Hartz IV – diese Beschlüsse sind nicht alt, und im Übrigen bei den Jusos jeweils schon Jahre vorher diskutiert und beschlossen. Damals waren diese Forderungen innerhalb der SPD noch lange nicht mehrheitsfähig und wurden als unrealistisch kritisiert. Diese Ideen waren also keine rein theoretischen Diskussionen um die richtige Haltung, sondern zukunftsweisend. Diese Art der innerparteilichen Debatte zu loben und sich an anderer Stelle über das „diffuse Gesamtbild“ der Partei zu beschweren, ist ein Widerspruch.

Politiker*innen werden von Werten (alias Moral) geleitet und deswegen sieht eine sozialdemokratische Wirtschaftspolitik anders aus als eine konservative oder neoliberale. Bei vielen wirtschaftspolitischen Themen herrscht inzwischen Konsens in der SPD. Wer in der SPD stellt sich denn grundsätzlich gegen eine antizyklische Konjunkturpolitik nach Keynes? Niemand. Kein Wunder also, dass sich die innerparteilichen Debatten um andere Dinge drehen.

Schlag ins Gesicht gesellschaftlicher Gruppen

Materialistische Politik ist für Nils Heisterhagen das Gegenteil von Identitätspolitik. Identitätspolitik ist im weitesten Sinne ein Konzept von Politik, das sich die Frage stellt, welche spezifischen Probleme einzelne Gruppen in der Gesellschaft haben. Heisterhagens Ansicht nach will dieser Politikansatz aber nur „moralisch im Recht sein“ und keine echten Probleme lösen. Damit unterstellt er, dass alle Probleme außerhalb seiner materialistischen „Realpolitik“ keine tatsächlichen Probleme sind. Also wahlweise eingebildet oder irrelevant.

Das empfinde ich als Schlag ins Gesicht und Angehörige der entsprechenden Gruppen (z. B. Frauen*, LGBTIQ*, nicht-weiße Menschen) wohl auch: Frauen* dürfen bis heute nicht komplett über ihren eigenen Körper bestimmen, LGBTIQ* werden immer noch so sehr stigmatisiert, dass es in dieser Gruppe viel mehr Selbsttötungen gibt, als in der Gesamtgesellschaft und nicht-weiße Menschen sind jeden Tag Rassismus ausgesetzt, der bei bösen Blicken anfängt und bei Morden endet, die von den Behörden nicht ordentlich aufgeklärt werden. Das sind keine eingebildeten Probleme.

Eine egoistische Wertvorstellung

Die Wahrnehmung von unterschiedlicher Betroffenheit ist zentral für politisches Handeln. Die Sozialdemokratie beschränkt sich aber nicht darauf. Statt nur die Unterschiede der Gruppen herauszustellen, schauen wir seit 157 Jahren auch auf Gemeinsamkeiten. Wir wissen, dass ökonomische Ungleichheit strukturell ist. Unser Wirtschaftssystem produziert Ungleichheit. Reiche werden reicher, Arme ärmer. Dagegen kann man nur gemeinsam kämpfen.

Aber auch dagegen stellt sich Nils Heisterhagen im Interview. Das Eintreten für die Probleme Anderer – in seinem Beispiel die Lehrerin, die am 1. Mai für einen Mindestlohn demonstriert, den sie selbst nicht brauchen wird – ist für ihn Folklore. Übersetzt: In der Politik darf sich jede*r nur um die Themen kümmern, die ihn*sie direkt betreffen. Darin steckt auch eine Wertvorstellung. Eine sehr egoistische. Nils Heisterhagen unterfüttert seine Moral auch sprachlich konsequent, indem er seine Sicht der Welt als „Realpolitik“ bezeichnet. Alles andere ist für ihn – logischerweise – fiktiv, nicht da oder eingebildet. Diese Weltsicht, diese Moralvorstellung, ist zutiefst unsolidarisch und in einer vielfältigen Gesellschaft ohnehin zum Scheitern verurteilt.

Sie ist das genaue Gegenteil von Sozialdemokratie. Wir stehen nicht nur für uns selbst, sondern auch für andere ein. Solidarität ist einer unserer Grundwerte und muss immer der Maßstab sozialdemokratischer Politik sein. Es sind diese Werte und Überzeugung für die Leute brennen und für die sie auch andere begeistern können. Daher: keine Angst vor Moral in der Politik!

Autor*in
Ferike Thom

ist Ökonomin und schreibt ihre Doktorarbeit zu internationaler Handelspolitik der EU an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie ist Mitglied im Vorstand der SPD Berlin.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare