Katarina Barley: Warum wir jetzt mehr Europa wagen sollten
Thomas Trutschel/photothek
Einer der Gründerväter der europäischen Union Jacques Delors bezeichnete die Corona-Pandemie jüngst als „tödliche Gefahr“ für Europa. Dabei bezog er sich zum einen auf die Gefahr, die von dem Virus für Leib und Leben der Bürgerinnen und Bürger des Kontinents ausgeht. Andererseits zielte sein Mahnruf auch auf die reale Gefahr eines Zerbrechens der europäischen Union an der Corona-Krise. Delors liegt mit seinem Mahnen nicht falsch, denn das Virus stellt die EU vor die größten Herausforderungen seit ihrer Gründung. Alte Gräben zwischen den Europäer*innen brechen wieder auf, neue kommen hinzu.
Corona-Krise: Herausforderung für die EU
Es ist richtig, dass gerade bei der Frage der finanziellen Solidarität angesichts der größten Krise der Nachkriegszeit die Vorstellungen der Mitgliedsstaaten teils weit auseinander liegen. Auch zeigt sich an den Corona-gefährdeten Flüchtlingscamps auf den griechischen Inseln, wie eklatant das Scheitern der vergangenen Jahre ist, sich auf einen Verteilmechanismus für Asylsuchende zu einigen. Die vielen, teils unkoordinierten Grenzschließungen im Schengenraum erweckten den Eindruck, dass sich in Krisenzeiten jeder selbst der Nächste ist. Gleichzeitig schienen China und Russland bereitwillig, medizinisches Material nach Italien zu liefern. ist die Krise also eine Bankrott- Erklärung für die EU?
140 Millionen Euro für die Forschung
Meine Antwort ist ein entschiedenes Nein! Denn bei aller berechtigten Kritik: Europa handelt und hilft. Zum einen tun dies die Staaten untereinander: Alleine Frankreich und Deutschland haben mehr Schutzmasken und medizinisches Material nach Italien gespendet als China. Die Mitgliedsstaaten nehmen auch schwerkranke Patienten aus anderen Teilen der EU auf und helfen einander bei der Rückholung von EU-Bürger*innen, die im Ausland gestrandet sind.
Auch die europäischen Institutionen handeln: es ist dem Eingreifen der EU zu verdanken, dass der freie Warenverkehr trotz der Grenzkontrollen so wenig wie möglich beeinträchtigt wird und somit wichtige Lieferketten nicht abreißen. Das europäische Parlament hat 37 Milliarden Euro kurzfristig bereitgestellt, die zur medizinischen und wirtschaftlichen Bekämpfung der Krise dienen sollen. Die EU investiert 140 Millionen Euro in die Forschung nach einem Impfstoff und hat eine zentrale Beschaffung für medizinische Schutzausrüstung gestartet. Und dies ist nur ein kleiner Teil der Maßnahmen, die die EU derzeit unternimmt, um die Krise zu bewältigen.
EU braucht mehr Kompetenzen
Dennoch: Die Corona-Pandemie zeigt uns einmal mehr die Webfehler unserer europäischen Union auf. Denn in vielen der entscheidenden Bereiche, an denen sich nun die Kritik an Europa entzündet, hat die EU keine ausreichenden Kompetenzen. Weder bei Gesundheit, Bevölkerungsschutz, sozialer Sicherung oder Grenzen hat die EU das Recht, eigenmächtig zu handeln. Europäisches Handeln in diesen Krisenzeiten ist daher vor allem vom zähen Ringen der Mitgliedsstaaten um Kompromisse geprägt. Es ist paradox, dass gerade jene, die jetzt die EU für Inaktivität kritisieren, ihr in normalen Zeiten keine Befugnisse übertragen wollen.
Wir sollten deshalb mutig sein und mehr Europa wagen. Auch müssen wir besser kommunizieren, was gut läuft. Denn wenn beispielsweise französische Patient*innen in Deutschland behandelt werden, wenn Rumänien Ärzt*innen nach Italien schickt, dann ist dies nicht nur eine Nachricht, sondern vor allem eines: gelebte europäische Solidarität.