Josephine Ortleb: Warum wir jetzt eine SPD-Doppelspitze und das Paritätsgesetz brauchen
Foto: Dirk Bleicker
Mit dem Abgang von Andrea Nahles erlebt die SPD eine Zäsur. Mal wieder. Dennoch ist es diesmal irgendwie anders, denn mit Andrea geht auch die erste Frau an der Spitze der Fraktion und der Partei.
Politik muss sichtbar weiblicher werden
Bei der letzten Bundestagswahl haben sich die Menschen in meinem Wahlkreis für mich – eine junge Frau aus der Gastronomie entschieden. Mit 31 Jahren als Abgeordnete in den Bundestag zu kommen, ist ein aufregendes Gefühl, gerade jetzt wo der Frauenanteil im Deutschen Bundestag mit etwa 31Prozent einen historischen Tiefstand erreicht hat. Deshalb war es für mich wichtig, dass wir eine Frau an der Spritze unserer Fraktion hatten – denn Politik muss sichtbar weiblicher werden.
Seit Sonntag ist klar, dass Andrea Nahles nach 13 Monaten den Fraktionsvorsitz abgibt. 13 Monate, die für die SPD alles andere als einfach waren. 13 Monate, in denen ich zwar nicht immer derselben Meinung war wie Andrea Nahles, wir dies aber immer offen und solidarisch klären konnten. 13 Monate, die auch ein strukturelles Problem in der Politik offenbaren: Frauen sind die Ausnahme in der Politik und so gehen wir auch mit ihnen um.
Die SPD fasst ihr Führungspersonal nicht mit Samthandschuhen an – keine neue Erkenntnis. Der Umgang mit Kurt Beck und Matthias Platzeck sind nur zwei Beispiele, die dafür stehen. Kritik an Führungspersonal und Strukturen ist erlaubt. Ich finde, dass Kritik sogar erwünscht sein muss, weil ich an den konstruktiven Moment von Kritik glaube. An die Möglichkeit durch Kritik eigene Standpunkte zu hinterfragen, die richtigen Positionen zu stärken und die falschen zu verwerfen. Voraussetzung für diese konstruktive Kritik ist jedoch Offenheit. Diese habe ich in den letzten Wochen vermisst und ich glaube, dass dies auch damit zu tun hat, dass sich die Kritik gegen eine Frau gerichtet hat.
Widersprüchliche Debatten müssen sein
Wer beispielsweise Medien nutzt, um Kritik zu äußern, der scheut den offenen Kampf um das bessere Argument. Warum? Ich glaube, dass darin noch immer – mindestens subtil – der Gedanke des „schwachen Geschlechts“ steckt. „Als Mann offen in der Debatte mit einer Frau aggressiv sein? Das macht man(n) nicht!“ – Dieses Denken bestimmt immer noch Debattenkultur. Dieses Denken kommt aus einer Zeit, in denen Frauen am Herd statt am Redner*innenpult standen – eine Zeit die wir überwunden haben, dies sollten wir auch 100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts zeigen. Also her mit dem Widerspruch. Her mit der Debatte. Wir Frauen sind schon lange bereit.
„Hart in der Sache, aber immer solidarisch“ – so kenne ich meine Partei und so bin ich es auch gewohnt. Wir befinden uns in einer Zeit des politischen Umbruchs. Die Gesellschaft ist so politisch wie seit Jahren nicht mehr und fordert den offenen Diskurs.
Unsere Aufgabe ist es, uns dieser Debatte zu stellen und eine politische Kultur vorzuleben, in der dies möglich ist. Auf Augenhöhe miteinander, offen und fair – dazu gehört für mich, dass man Meinungsverschiedenheiten anspricht, wenn sie entstehen und nicht den bequemeren Weg über Medien sucht, um sich den Frust von der Seele zu reden. Macht uns nicht schwächer als wir sind.
Wir sind wenige – wir müssen mehr werden
Wer in das Plenum des Deutschen Bundestages schaut, der sieht hauptsächlich Männer. Männer dominieren nicht nur das Bild, sondern auch die Debatte. Wer in das Plenum des Deutschen Bundestages hineinhört, hört während der meisten Reden von Frauen oftmals: mehr Zwischenrufe, mehr Zwischengespräche, mehr Unaufmerksamkeit.
Wer die politische Debatte dominiert, der bestimmt die Spielregeln, also die Struktur in der wir miteinander arbeiten. Während eine Verhaltensweise bei Männern als Konsequenz, Stärke oder Durchsetzungskraft wahrgenommen wird, wird die gleiche Verhaltensweise bei Frauen als Bissigkeit oder Aggressivität wahrgenommen. Wenn Bild also schreibt, dass der Rückzug von Andrea Nahles „typisch weiblich“ ist , dann ist dies Ausdruck einer sexistischen Denkstruktur in unserer Gesellschaft.
Es ist Zeit, die Spielregeln zu verändern. Frauen sind gesellschaftlich in der Mehrheit, aber politisch in der Minderheit. Dieses strukturelle Problem hat viele Ursachen und muss auf verschiedenen Ebenen beantwortet werden. Gleiche Teilhabe ist kein Selbstzweck, sie ist der Anspruch an uns selbst.
Doppelspitze und Paritätsgesetz gefordert
Wer gleiche Teilhabe will, der braucht innerhalb der Partei eine Doppelspitze – etwas was wir Frauen in der SPD seit Jahren einfordern, weil im Team jede Aufgabe leichter von der Hand geht.
Ich möchte gleiche Teilhabe, deshalb möchte ich ein Parité-Gesetz. Ein Gesetz, das dafür sorgt, dass Frauen bekommen was ihnen zusteht: Die Hälfte der politischen Macht. Ein Gesetz, das dafür sorgt, dass Frauen die Spielregeln mitbestimmen können, nach denen gespielt wird. Ein Gesetz, dass dafür sorgt, dass Selbstverständliches auch zur Selbstverständlichkeit wird. Ein Gesetz, dass dafür sorgt, dass wir Frauen nicht nur die Hälfte des Kuchens, sondern die Hälfte der Bäckerei bekommen. Eine neue politische Kultur.
Die letzten Wochen haben mir nochmal deutlich gemacht, dass wir eine neue politische Kultur brauchen. Eine Kultur des Miteinanders. Eine Kultur des offenen Diskurses – gerade bei Streitfragen. Eine Kultur, in der gleiche Teilhabe Normalität ist. Eine Kultur, in der nicht von typisch weiblich oder typisch männlich die Rede ist – sondern das Argument zählt.
Dieser Text erschien zuerst bei Bento.