Meinung

Fall Nawalny: Warum die EU Sanktionen gegen Russland verhängt

Die EU reagiert auf den Chemiewaffeneinsatz gegen Alexej Nawalny mit Sanktionen gegen Russland. Sie zeigt damit, dass sie nicht so schwach und uneinig ist, wie Wladimir Putin glaubt. Das ist auch nötig.
von Lars Haferkamp · 13. Oktober 2020
Treffen der EU-Außenminister in Luxemburg am 12.10.2020: Bundesaußenminister Heiko Maas (m) mit seinen Amtskollegen Jean-Yves Le Drian (l) aus Frankreich und Jean Asselborn (r) aus Luxemburg
Treffen der EU-Außenminister in Luxemburg am 12.10.2020: Bundesaußenminister Heiko Maas (m) mit seinen Amtskollegen Jean-Yves Le Drian (l) aus Frankreich und Jean Asselborn (r) aus Luxemburg

Die Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny mit dem Chemiekampfstoff Nowitschok ist, wie Außenminister Heiko Maas betont, „ein schwerer Bruch des Völkerrechtes“ mitten in Europa. So sieht es auch die EU. Ohne Gegenstimmen haben sich deshalb die EU-Außenminister grundsätzlich auf Sanktionen gegen Russland verständigt, auf gemeinsame Initiative von Deutschland und Frankreich hin. Der EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs Ende der Woche wird die Sanktionen voraussichtlich beschließen.

Russland bricht Chemiewaffenkonvention

Moskau hat sich mit der Unterzeichnung der Chemiewaffenkonvention von 1997 vertraglich verpflichtet, vorhandene Chemiewaffen zu deklarieren und bis zum Jahr 2012 sämtliche Bestände unter internationaler Aufsicht zu vernichten. Es hat sich verpflichtet, auf Entwicklung, Herstellung, Lagerung und den Einsatz chemischer Waffen zu verzichten. Doch so wie beim Einsatz russischer Chemiewaffen im britischen Salisbury im Jahr 2018 hat der Kreml nun auch im Fall Nawalny seine vertraglichen Zusagen gebrochen.

Die Führung Russlands müsste – möchte man meinen – nicht nur selbst größtes Interesse daran haben, die Vergiftung eines wichtigen russischen Politikers auf russischem Boden mit einem von Russland entwickelten chemischen Kampfstoff aufzuklären. Russland ist als Mitglied der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) auch zur Aufklärung verpflichtet. Warum wurde der chemische Kampfstoff Nowitschok nicht vernichtet, wie von Russland vertraglich zugesichert? Und warum werden nach dem Mordversuch in Russland nicht einmal strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet?

Einsatz von Nowitschok zweifelsfrei bestätigt

Statt glaubwürdige Antworten zu liefern und seinen vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen, wirft der Kreml mit Nebelkerzen. Und verhöhnt die internationale Staatengemeinschaft geradezu mit absurdesten Behauptungen. Etwa, dass Alexej Nawalny in Deutschland vergiftet wurde oder sich das Nervengift selbst zugeführt habe. Oder dass es gar keine Vergiftung mit Nowitschok gegeben habe – auch wenn drei unabhängige Speziallabore in Deutschland, Frankreich und Schweden dies eindeutig und zweifelsfrei bestätigt haben, zuletzt noch einmal die Experten der OVCW.

Niemand kann über den Sanktionsbeschluss der EU glücklich sein. Angesichts der fortschreitenden Verschlechterung der Beziehungen zu Russland blutet besonders vielen Sozialdemokrat*innen das Herz. Hängen sie doch – mit Fug und Recht – am großen Erbe der Ost- und Entspannungspolitik von Egon Bahr, Willy Brandt und Helmut Schmidt. Deren Kern war eine Vertragspolitik, etwa mit der damaligen Sowjetunion. Hauptinhalt aller Ostverträge waren die Anerkennung der bestehenden Grenzen in Europa und der Verzicht auf Androhung und Anwendung von Gewalt.

Wladimir Putin ändert Grenzen in Europa mit Gewalt

Genau dagegen verstößt aber Russlands Präsident Wladimir Putin planmäßig und seit Jahren. Es begann mit dem Einmarsch Russlands in Georgien im Kaukasuskrieg 2008. Es setzte sich fort mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 und dem Einmarsch verdeckter russischer Krieger in der Ost-Ukraine, die dort bis heute ihr blutiges und oft tödliches Handwerk verrichten.

Präsident Putin bricht mit dieser Politik der Gewalt bewusst das Völkerrecht. Er bricht auch die Charta von Paris aus dem Jahr 1990, die den Kalten Krieg in Europa vertraglich beendete und die Grundlage der europäischen Friedensordnung ist. Alle Unterzeichnerstaaten – auch Russland – bekennen sich in der Charta zur Demokratie als Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden. Sie verpflichten sich, die territoriale Integrität aller Staaten zu achten und auf jede Androhung oder Anwendung von Gewalt zu verzichten.

Klare und entschlossene EU-Haltung nötig

Europa steht vor der Frage: Wie soll mit einem Land, das systematisch die zentralen Verträge der europäischen und globalen Sicherheitsarchitektur bricht, eine Vertragspolitik möglich sein? Wie soll mit einem Land, das die Grenzen in Europa nicht akzeptiert sondern sie mit Gewalt verschiebt, eine Entspannungspolitik möglich sein?

Sie ist es heute leider nicht. Sie wird erst dann wieder möglich, wenn der Kreml zurückkehrt zu einer Politik, die auf Gewalt verzichtet und die Grenzen in Europa respektiert. Damit es dazu kommt, ist eine entschlossene und klare Haltung der EU gegenüber Russland nötig.

Beschwichtigung ermutigt zu neuen Aggressionen

Putin hält Demokraten im Allgemeinen und die EU im Besonderen für schwach. Das zeigt er mit dem Mordanschlag auf Alexej Nawalny genauso wie mit dem Tiergarten-Mord mitten in Berlin, das zeigen seine Militäreinsätze in der Ukraine und in Georgien. Das ist gefährlich. Denn die europäische Geschichte zeigt: Schwäche beschwichtigt keinen Aggressor, sie provoziert ihn – zu neuen Aggressionen. Um das zu verhindern, bereitet die EU nun neue Sanktionen gegen Moskau vor. Bleibt zu hoffen, dass der Kreml das Signal versteht. Im Interesse des Friedens in Europa.

Autor*in
Lars Haferkamp
Lars Haferkamp

ist Chef vom Dienst und Textchef des vorwärts.

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