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Die Europäische Union steht vor großen Herausforderungen, denn die Corona-Krise hat viele EU-Staaten hart getroffen. In den kommenden Monaten braucht die europäische Wirtschaft einen Anschub durch ein Konjunktur- und Wachstumspaket, damit sie den Weg aus der Krise finden kann. Ohne einen solchen staatlichen Anschub besteht die Gefahr, dass Wirtschaft und Gesellschaft dauerhaften Schaden erleiden.
Corona als Chance für die EU
Doch nicht alles ist schlecht. Die Corona-Krise bietet auch eine Chance für die europäische Gemeinschaft, näher zusammenzurücken und die notwendige sozial-ökologische Transformation beherzt voranzutreiben. Was kann die Politik tun, damit alle EU-Staaten zusammen den Sprung auf einen sozial gerechten und ökologisch nachhaltigen Wachstumspfad schaffen können?
Zuerst muss die Politik ihre Erzählung ändern. Die Erzählung der alten EU war das neoliberale Versprechen, dass freier Wettbewerb und Marktwirtschaft dauerhaften Wohlstand für alle erzeugen würden. Dieses Versprechen wurde nicht eingelöst. Dies ist aus ökonomischer Sicht nicht überraschend, denn in der Realität sind Marktversagen und Ausgrenzung durch unfairen Wettbewerb die Regel.
Europa braucht eine neue Erzählung
Welches Narrativ soll die alte Erzählung ersetzen? Das neue Narrativ der EU muss sein, dass nur gemeinschaftliches Handeln und Solidarität das Wohlergehen aller sicherstellen können. Entsprechend zur neuen Erzählung braucht Europa eine neue Wirtschaftspolitik, die aus drei Säulen bestehen sollte. Zum Ersten muss die EU Solidarität mit den Mitgliedsstaaten und Regionen zeigen, die besonders hart von der Corona-Krise getroffen wurden. In dieser Hinsicht ist der deutsch-französische Vorschlag vom 20. Mai zur Ausgestaltung des geplanten europäischen Wiederaufbaufonds ein wichtiger Schritt. Denn dieser Vorschlag legt den Schwerpunkt auf direkte Zuschüsse, von denen überproportional die hart getroffenen Länder wie Italien und Spanien profitieren. Dies ist ein starkes Zeichen der Solidarität.
Die zweite Säule erfordert eine gemeinschaftliche Finanzierung eines Teils des EU-Haushalts. Auch in dieser Hinsicht ist der deutsch-französische Vorschlag wegweisend, denn der Großteil der Ausgaben des Wiederaufbaufonds soll über die Emission gemeinschaftlicher Anleihen finanziert werden. Dies ist nicht nur ökonomisch sinnvoll, sondern ist auch ein wichtiger Schritt in Richtung engere Integration der EU-Staaten. Noch wichtiger als gemeinschaftliche Anleihen ist jedoch die Einführung einer gemeinsamen europäischen Steuer. Hier bieten sich eine europaweite Digitalsteuer oder Finanztransaktionssteuer an. Die dritte Säule ist vielleicht der wichtigste Baustein: Die Europäische Union braucht gemeinschaftliche Zukunftsprojekte. Diese Säule hat bisher in der öffentlichen Debatte nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Das ist bedauerlich, denn ohne gemeinsame Leuchtturmprojekte wird die EU für viele Menschen in Europa immer ein ungeliebtes Bürokratiemonster bleiben.
Europäische Leuchtturmprojekte sind jetzt nötig
Klimaschutz ist besonders geeignet für die Entwicklung europäischer Leuchtturmprojekte, wie das Beispiel einer europäischen Wasserstoffinitiative zeigt. Die angestrebte Dekarbonisierung der Wirtschaft erfordert die Produktion grünen Wasserstoffs auf Basis von Solarenergie in größeren Mengen, wozu verstärkt Anlagen in Südeuropa und mittelfristig auch im nördlichen Afrika notwendig sein werden. Die Entwicklung der Produktionsstätten und Transportinfrastruktur würde in den betroffenen Staaten einen ökologisch nachhaltigen Wachstumsschub auslösen. Darüber hinaus sind fortschrittliche europäische Gemeinschaftsprojekte im Gesundheitsbereich (Virus-Forschung) und im Verkehrsbereich (Europa-Takt) naheliegend.
Die genannten Zukunftsprojekte werden nur die Lebensqualität aller Menschen in Europa steigern, wenn gemeinwohlorientierte Unternehmen eine wichtige Rolle spielen – Staat (Gemeinwohl) vor Markt (Lobbyismus). Die Frage der Unternehmensstruktur definiert die Trennlinie zwischen progressiver Wirtschaftspolitik und konservativem Stillstand. Denn auch die konservative Seite wird den Menschen ein goldenes Zeitalter mit einer ökologisch nachhaltigen Wirtschaft versprechen. Doch gemeint ist eine grüne Version der alten neoliberalen Agenda: Jeder für sich, Markt vor Staat und ein CO2-Preis, damit die grüne Seele nachts ruhig schlafen kann. Es ist die politische Aufgabe der Sozialdemokratie, diesen Kontrast in der Öffentlichkeit deutlich zu machen.
ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Makroökonomik und Wirtschaftspolitik an der Universität Mannheim.