Meinung

Es ist Zeit für eine realistische sozialdemokratische Russlandpolitik

Wie sieht eine zeitgemäße Politik gegenüber Russland aus? Statt politischer Folklore muss die aktuelle Lage nüchtern bewertet und danach gehandelt werden. Eine Replik auf Wolfgang Schroeder und Wolfgang Merkel.
von Mitglieder des Fachausschusses · 16. April 2022
Ein Treffen, dass Russlands Überfall auf die Ukraine nicht verhindern konnte: Bundeskanzler Olaf Scholz bei Wladimir Putin in Moskau am 15. Februar
Ein Treffen, dass Russlands Überfall auf die Ukraine nicht verhindern konnte: Bundeskanzler Olaf Scholz bei Wladimir Putin in Moskau am 15. Februar

Dieser Text ist eine Replik auf den Beitrag „Wie eine neue Politik gegenüber Russland aussehen sollte“ von Wolfgang Merkel und Wolfgang Schröder.

Der Angriff auf die Ukraine ist eine Mahnung zu kritischer Selbstreflektion deutscher und sozialdemokratischer Politik der Vergangenheit, nicht eine Aufforderung, alte Konzepte zu entstauben, umzudeuten und nostalgisch wieder in das Schaufenster unserer Politik zu stellen. Vor allem ist es Zeit, sich von deutscher Selbstgerechtigkeit und überhöhtem Moralismus zu verabschieden.

In ihrem Beitrag skizzieren Wolfgang Schroeder und Wolfgang Merkel, „wie eine neue Politik gegenüber Russland aussehen sollte“. Wir können daran wenig Neues erkennen – vielmehr identifizieren wir ein Plädoyer für eine möglichst schnelle Rückkehr zum Status quo ante bellum und all den Problemen, die uns jetzt schmerzlich auf die Füße fallen.

Die Ziele potenzieller Feinde ernst nehmen

Selbstverständlich muss die Bundeswehr so aufgestellt werden, dass sie ihren Verpflichtungen der Landes- und Bündnisverteidigung nachkommen kann. Out-of-Area-Einsätze zeigten mäßigen Erfolg und wirken in der derzeitigen Lage wie eine unnötige Überstrapazierung der Streitkräfte. Es irritiert jedoch, wenn die Autoren schreiben, dass Aufrüstung alleine nicht ausreichend sei und eine sozialdemokratische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik „die Interessen, Ziele und Bedrohungsperzeptionen des potentiellen Feindes ernst nahm“. Zunächst geht es bei den derzeitig geplanten Investitionen in die Bundeswehr nicht um Aufrüstung, sondern um Ausrüstung, sodass sich Ist und Soll wieder annähern. Exemplarisch hierfür sind die 20 Milliarden Euro, die alleine notwendig sind, um den NATO-Anforderungen für Munition gerecht zu werden.

Es ist richtig, die Interessen, Ziele und Bedrohungsperzeptionen des potenziellen Feindes ernst zu nehmen. Genau dies haben die Bundesregierungen und nicht zuletzt die deutsche Sozialdemokratie in den vergangenen Jahren jedoch versäumt: Die offensichtliche Bedrohungslage der Ukraine und damit für Europa wurde bis zuletzt nicht ernst genommen, sodass sich die Bundesregierung überrumpelt von der Invasion dazu gezwungen sah, unter massivem Druck eine außenpolitische heilige Kuh nach der anderen zu schlachten. Der Angriff auf die Ukraine ist keine unvorhersehbare Katastrophe oder Tragödie, sondern hat sich abgezeichnet. Davor hat deutsche Russlandpolitik – geprägt auch von Sozialdemokrat*innen – lange Zeit die Augen verschlossen. Putin wurde nicht nur einmal, nach der Annexion der Krim in 2014, sondern zum zweiten Mal in 2022 unterschätzt. Den Preis dafür zahlen die Ukrainerinnen und Ukrainer.

Vier Handlundsempfehlungen für die Außenpolitik

Aus dieser bestenfalls nicht zu wiederholenden Erfahrung ergeben sich für uns folgende Handlungsimperative. Erstens: eine Ausrüstung der Bundeswehr, die gewährleistet, dass die Bundesrepublik ihrer aus ihrem wirtschaftlichen Gewicht erwachsenen politischen Verantwortung für ihre Verbündeten gerecht werden kann. Denn eine Analyse der derzeitigen Interessen und Ziele der russischen Führung kann nur zu dem Ergebnis kommen, dass ihr an einer Destabilisierung der westlichen Bündnisse (EU/NATO) gelegen ist. Angesichts der größten Herausforderung für unsere Freiheit und Sicherheit nach dem Ende des Kalten Krieges von  „Putins Bedrohungs-Aggressions-Narrativ“ zu sprechen, begeht erneut den Kapitalfehler der Unterschätzung. Denn inwiefern ist der russische Angriffskrieg in der Ukraine einschließlich Wladimir Putins Androhung einer vollständigen Vernichtung, dokumentierter Kriegsverbrechen und totaler innenpolitischer Repression ein Narrativ?

Zweitens sollte eine verantwortungsvolle sozialdemokratische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik eine Sicherheitsordnung fördern, die die Bedrohung unserer Verbündeten, vor allem unserer östlichen Verbündeten, endlich ernst nimmt. Hier haben auch sozialdemokratische Politiker*innen in der Vergangenheit Verantwortung gescheut. Zu lange hat die bundesrepublikanische Außenpolitik die Sicherheitsinteressen ihrer östlichen Nachbar*innen (hiermit sind explizit die Länder zwischen Deutschland und Russland gemeint) vernachlässigt,  gepaart mit einer Dominanz deutscher Handels-, Energie-, und Exportinteressen in den außenpolitischen Beziehungen. Das hat ein berechtigtes Misstrauen gegenüber deutscher Außenpolitik befördert.

Dies gehört nun beendet: Deutschland, Europa und die NATO benötigen eine langfristige Strategie für den Umgang mit den anhaltenden russischen Destabilisierungs- und Bedrohungsrisiken vis-à-vis Moldau, Georgien, Armenien und dem Westlichen Balkan. Polen und das Baltikum, sowie die ganze Ostflanke der NATO, müssen mit umfassender NATO-Truppenpräsenz verteidigt und Russland abgeschreckt werden von jeglichen Provokationen. Die NATO-Russland-Akte hat durch Russlands Angriffskrieg ihre Gültigkeit verloren. Dies gilt mindestens solange, wie Putin im Amt bleibt, also wahrscheinlich bis zum Jahr 2036.

Emanzipation und Selbstbestimmung

Drittens sollten wir über Begrifflichkeiten und Perspektiven sprechen. Der Begriff der NATO-Osterweiterung nimmt die ost-, mittel- und südosteuropäischen Staaten, die nach dem Ende des Kalten Krieges Teil der westlichen Bündnisse wurden, als Subjekte nicht ernst und betrachtet sie lediglich als Objekte von Großmachtpolitik, die willenlos von einem geopolitischen Block zum anderen geschoben wurden.  Der bessere Begriff ist NATO- (und EU-) Beitrittsprozess, da er das Recht auf freie Bündniswahl respektiert hat und diesen Ländern ihre eigene Akteursfähigkeit nicht abspricht. Emanzipation und Selbstbestimmung sind die Essenz sozialdemokratischer Politik, daher dürfen wir sie in unserer Außenpolitik nicht vernachlässigen.

Es war vor allem auch die Bundesrepublik, die sich gegen anfängliche Skepsis auf Seiten der westlichen Verbündeten für einen Beitritt der ehemaligen Warschauer Pakt- bzw. Sowjetrepubliken (im Falle des Baltikums) aussprach, um einen Ring aus Freunden und Stabilität um Deutschland zu schaffen und nicht selbst die „Ostflanke“ zu sein. Für die Bundesrepublik ergab sich hier eine komfortable Win-Win-Situation: Ein möglicher Verteidigungsparameter wurde um einige hundert Kilometer quasi zum Nulltarif nach Osten verschoben, denn die Hauptlast der Verteidigung trugen die USA, die auch jetzt die Logistik für die Waffenlieferungen an die Ukraine übernehmen und die ukrainische Führung durch militärische Aufklärung unterstützen.

Neue Antworten für eine neue Zeit

Viertens: Wolfgang Merkel und Wolfgang Schroeder wiederholen einen Allgemeinplatz, wenn sie sagen, dass die traditionelle sozialdemokratische Kombination von Entspannung, Verflechtung und Multilateralismus nicht über Nacht zur Makulatur geworden ist. Natürlich wird es irgendwann wieder eine Phase der Stabilisierung in den Beziehungen zu Russland geben. Diese Konzepte verlieren historisch gesehen nicht an Wert. Aber im Moment treibt Russland eine Politik der Eskalation voran, die sich voraussichtlich nicht mehr ändern wird unter der Führung von Wladimir Putin. Für die nächsten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, wird es keine Rückkehr zu diesen Konzepten in den Beziehungen zu Russland geben können.

Eine andere Zeit benötigt andere Antworten. Unsere Außenpolitik muss an radikal veränderte geopolitische Gegebenheiten angepasst werden, die neben einem für wohl auf Jahre blockierten UN-Sicherheitsrat endlich auch unsere nach wie vor viel zu große wirtschaftliche Abhängigkeit von China und die Notwendigkeit des Ausbaus von Desinformationsbekämpfung und anspruchsvollen Cyberabwehrkapazitäten adressieren sollte. Die Unvorhersehbarkeit internationaler Konflikte und die mögliche Rückkehr eines isolationistischen US-Präsidenten im Weißen Haus zwingen Europa und Deutschland außerdem, Verantwortung für die eigene Sicherheit zu übernehmen und eine realistische EU-Verteidigungsstrategie auf den Weg zu bringen. Diese kann nur durch eine adäquate Ausrüstung unserer Streitkräfte und unserer Verbündeten erfolgen.

Zeitgemäße Konzepte statt Folklore

Zahlreiche Herausforderungen also, die zu Zeiten Egon Bahrs und Willy Brandts noch in weiter Ferne lagen. Was uns zu unserer letzten Forderung für die neue bundesrepublikanische, sozialdemokratisch geprägte Russlandpolitik führt: Ebenso verklärte wie unspezifische Bezugnahmen auf vergangene sozialdemokratische Persönlichkeiten ersetzen keine konkreten Handlungsempfehlungen für den jetzigen Sozialdemokraten im Kanzleramt, Olaf Scholz. Die gilt es nun endlich zu erarbeiten – angepasst an das, was ist, und nicht an die politische Folklore, die sich so manch einer zurückwünscht.

Autor*in
Mitglieder des Fachausschusses

Internationales, Frieden und Entwicklung der SPD Berlin

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