Meinung

Eine Politik der nuklearen Abschreckung schafft keine Sicherheit

Mit Russlands Überfall auf die Ukraine ist die Gefahr eines Atomkriegs in eine reale Nähe gerückt. Der noch junge Atomwaffenverbotsvertrag könnte ein Ausweg sein. Auch Deutschland sollte ihm beitreten.
von Angelika Claußen · 19. Juni 2022
Atomrakete im Silo: Atomare Abschreckung ist keine Garantie für echte gemeinsame Sicherheit.
Atomrakete im Silo: Atomare Abschreckung ist keine Garantie für echte gemeinsame Sicherheit.

Mit dem Ukrainekrieg ist das Gründungsthema der Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges auf tragische Weise wieder hochaktuell. Die Warnung vor dem nuklearen Wettrüsten der Atommächte und vor einem Atomkrieg in Europa, ausgelöst durch die Drohung der russischen Regierung mit einem Atomwaffeneinsatz, ist sehr real. Das hat das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI am 13. Juni 2022 bestätigt. Alle neun Atommächte optimieren ihr nukleares Arsenal für den Einsatz. Wir stehen mitten im Wettrüsten.

Mit Verträgen gegen die Verbreitung von Atomwaffen

Ein zentraler Vertrag des globalen Engagements der IPPNW, um atomare Abrüstung einzufordern, war seit dem Inkrafttreten 1970 der Nichtverbreitungsvertrag (NVV). Er verbietet den Nicht-Atomwaffenstaaten den Erwerb von Atomwaffen und verpflichtet zugleich die Atomwaffenstaaten, Verhandlungen aufzunehmen zur vollständigen Abschaffung aller Atomwaffen weltweit. Dieser Aspekt ist heute erneut von allergrößter Wichtigkeit, wenn die Bundesregierung Rüstungsprojekte wie den Kauf der atomwaffenfähigen F35-Kampfjets auf den Weg bringt, die den Verpflichtungen dieses Vertrages fundamental widersprechen oder die Atommächte ihre Arsenale „modernisieren“. Dabei haben sich die Staaten im NVV verpflichtet, alle Atomwaffen abzuschaffen.

Der UN-Atomwaffenverbotsvertrag (AVV), der vor einem Jahr in Kraft trat, baut auf dem Nichtverbreitungsvertrag auf. Die Zivilgesellschaft hat sich dafür eingesetzt, weil die Atomwaffenstaaten ihre Pflicht zur atomaren Abrüstung dauerhaft verletzt haben. 2017 erhielt die von der IPPNW initiierte Kampagne zur Abschaffung der Atomwaffen (ICAN) den Friedensnobelpreis für ihre Bemühungen um ein völkerrechtliches Verbot von Atomwaffen. In der Begründung des Nobelpreiskommittees heißt es: „Die Organisation erhält die Auszeichnung für ihre Arbeit, Aufmerksamkeit auf die katastrophalen humanitären Konsequenzen jeglichen Einsatzes von Atomwaffen zu lenken und für ihre bahnbrechenden Bemühungen um ein vertragliches Verbot solcher Waffen.“

Selbstermächtigung der Nichtatomwaffenstaaten

Der Atomwaffenverbotsvertrag ergänzt das Regelwerk von Verträgen zu Atomwaffen um die Norm der globalen Ächtung und damit das Verbot des Einsatzes, das im Nichtverbreitungsvertrag fehlt. Er stellt die inakzeptablen humanitären Konsequenzen in den Vordergrund und nimmt den Schutz von Mensch, Planet und Natur ernst. Der Atomwaffenverbotsvertrag setzt neue Standards für die Rechte der Überlebenden von Atomwaffeneinsätzen und -tests und fordert Umweltsanierung der verseuchten Regionen. Er stellt eine Selbstermächtigung der Nichtatomwaffenstaaten und der globalen Zivilgesellschaft dar und schafft einen neuen Diskursraum für die globale Abrüstung. Der Atomwaffenverbotsvertrag erhält schon jetzt breite Unterstützung und ist ein wichtiger Schritt zur Bewältigung aktueller Herausforderungen.

Staaten, die dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten, verpflichten sich zur Festlegung einer Frist für die Vernichtung bzw. den Abzug von Atomwaffen von ihrem Gebiet. So ist es in Artikel 4 vorgesehen. Artikel 6 und 7 beschäftigen sich mit den Schäden, die durch den Einsatz und die Tests von Atomwaffen entstanden sind. Sie schaffen operative Instrumente für ein Netzwerk von Staaten und einen Fonds, der sich dieser Verpflichtung annimmt.

Mit der Entschädigung und Sanierung soll vergangenes Unrecht im nuklearen Bereich kompensiert und Haftung übernommen werden. Im Netzwerk können und sollen auch Staaten mitarbeiten, die keine Vertragsstaaten sind.

Vorschläge zur nuklearen Abrüstung 

Ausgelöst durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine erleben wir zurzeit einen Bewaffnungsreflex aller direkt und indirekt beteiligten Staaten mit dem Schwerpunkt Europa. Ein Denk- und Handlungsmuster der Kriegslogik ist, mit dem „Mythos der erlösenden Gewalt“ auf die Angst- und Verunsicherungsgefühle zu reagieren. In der Friedenswissenschaft ist das der erste Schritt zur Eskalation. Ein Krieg, an dem vier Atomwaffenstaaten beteiligt sind, würde aber das Ende unserer Welt bedeuten. 

Aus ärztlicher Sicht geht es um Verminderung der angedrohten Gewalt und um Schadensvermeidung. Die IPPNW wirbt für einen Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag, ein Schritt, der den Ukrainekrieg zwar nicht unmittelbar beendet, aber einen der vielen notwendigen Deeskalationsschritte darstellt. Denn die Politik der nuklearen Abschreckung schafft keine Sicherheit, sondern ermöglicht die nukleare Erpressung, wie im Ukrainekrieg gerade sichtbar wird.

Inzwischen haben den Vertrag 62 Staaten ratifiziert. Als nächstes müssen die Atomwaffenstaaten Zugeständnisse machen. Russland und die USA besitzen mehr als 90 Prozent aller Atomwaffen weltweit. Beide Regierungen haben erst am 3. Januar 2022 gemeinsam mit China, Großbritannien und Frankreich erklärt, dass sie anerkennen, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und nie geführt werden darf. Russland und die USA könnten der Weltöffentlichkeit jetzt gemeinsam und rechtsverbindlich erklären, dass sie einen Ersteinsatz von Atomwaffen ablehnen. Danach könnten schrittweise alle neun Atommächte dieser Erklärung beitreten. Das wäre der erste Schritt der Atomwaffenmächte zum Atomwaffenverbotsvertrag.

Die NATO muss kein nukleares Bündnis sein

Weitere mögliche Schritte betreffen diejenigen NATO-Länder, die auf ihrem Territorium US-Atomwaffen gelagert haben: Belgien, Deutschland, Italien, die Niederlande und die Türkei. Warum soll die NATO zwingend ein nukleares Bündnis sein? Die Staaten der nuklearen Teilhabe können gerade mit Blick auf den Ukrainekrieg in Aussicht stellen, dass sie auf die Stationierung von Atomwaffen verzichten, um dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten zu können. Dafür müsste Russland seine taktischen Atomwaffen aus Kaliningrad und aus der Nähe zur ukrainischen Grenze zurückziehen. Solche Forderungen aufzustellen, bedeutet vor allem, dass NATO-Länder gegenüber Russland neue übergeordnete Ziele für den Frieden in Europa mit auf den Verhandlungstisch legen.

Anlässlich des schwedischen Beitrittswunsches zur NATO fordern die Schwedischen Ärzt*innen gegen Atomwaffen (SLMK) sicherzustellen, dass Schweden atomwaffenfrei bleibt – sowohl territorial als auch politisch. Zuallererst solle Schweden unverzüglich dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten. Auf mittelfristige Sicht ist dieses Abkommen die einzige Antwort auf die Doktrin der nuklearen Abschreckung und eine Garantie für echte gemeinsame Sicherheit.

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Angelika Claußen

ist Vorsitzende der IPPNW, der Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

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