Ein solidarisches Miteinander: Sozialdemokratische Utopie für die 20er-Jahre
Florian Gaertner/photothek.net
Als der junge Amerikaner Julien West nach einem über hundertjährigen Tiefschlaf im Jahr 2000 die Augen aufschlägt, erblickt er erstaunt eine Gesellschaft, in der es keine Regenschirme mehr gibt. Diese Symbole eines rückständigen Individualismus sind nicht mehr nötig, denn längst halten überdachte Bürgersteige die Menschen trocken. Und nicht nur das: Auch die rauchenden Schornsteine sind dank neuer Technik verschwunden, Männer und Frauen leben gleichberechtigt zusammen, Ausbeutung und Arbeit sind überwunden.
Eine Gesellschaft, weniger Gemeinschaft
Kurzum: Man lebt nicht mehr nebeneinander in einer lose verbundenen Gesellschaft, sondern in einem neuen, echten Miteinander. Der Schriftsteller Edwards Bellamy zeichnete diese Utopie einer neuen Welt in seinem Roman „Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf 1887“, der im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem Bestseller auch in der deutschen Sozialdemokratie wurde.
20 Jahre sind seit dem Jahr 2000 vergangen, über 130 seit Bellamy diese Utopie entworfen hat. Gemeinschaftliches Zusammenleben in Solidarität und Kooperation ist eine Utopie geblieben. Den Alltag vieler Menschen prägen andere Dinge: Konkurrenz, zunehmende Ungleichheiten, die Abschottung der Oberschicht, Konflikte zwischen Alt und Jung, Stadt und Land, Greta-Skeptiker*innen und Klimaaktivist*innen – die Heftigkeit, mit der all diese Konflikte ausgetragen werden, deutet darauf hin, dass wir zwar in einer Gesellschaft leben, aber immer weniger in einer Gemeinschaft miteinander verbunden sind. Die soziologischen Gegenwartsdiagnosen bestätigen diesen Eindruck. Andreas Reckwitz beobachtete in seinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ eine „soziale Logik der Singularisierung“, die eine gesellschaftliche Polarisierung verstärkt.
Neoliberalismus forciert Wettbewerbsgesellschaft
Die Ursachen, Ausdrucksformen und Folgen des Gemeinschaftsverlusts sind vielfältig. Der Neoliberalismus hat in den vergangenen drei Jahrzehnten das Bild einer Wettbewerbsgesellschaft forciert, in der jeder zu jedem in Konkurrenz steht. Wettbewerb und Konkurrenz galten als die eisernen Organisationsprinzipen der Gesellschaft, nicht Kooperation und Miteinander.
Der Rechtspopulismus lebt sogar davon, dass er verschiedene Gruppen in der Gesellschaft gegeneinander in Stellung bringt. Die „da unten“ gegen“ „die Elite“, „die Flüchtlinge“ gegen „die Deutschen“, das „Volk“ gegen „die Politik“ usw. Das Geschäftsmodell des Rechtspopulist*innen beruht einzig und allein auf der Behauptung von Gegensätzen und ihrer Zuspitzung bis hin zur physischen Gewalt.
Auch aus Perspektive einer übersteigerten Identitätspolitik steht ein gemeinsames Miteinander unter Druck. Der britische Philosoph Richard Rorty hat schon in den 1990ern darauf hingewiesen, dass zum Beispiel der Stolz darauf, schwarz zu sein, völlig legitim und nachvollziehbar sei nach Jahrhunderten der Erniedrigung und Unterdrückung. Und natürlich gilt es, diese Art von Ungleichbehandlung und Ungerechtigkeiten zu überwinden. Er sagt aber auch, dass dieser Stolz nicht die gemeinsame soziale Reformpolitik mit Weißen verhindern dürfe. Die Überbetonung von kulturellen Identitäten könne andere, gemeinsame Interessen überlagern und so zu mehr Spaltung statt zu mehr Miteinander führen.
Anerkennung von Unterschieden im solidarischen Miteinander
Wie könnte demgegenüber die sozialdemokratische Utopie eines solidarischen Miteinanders aussehen? Sie geht erstens davon aus, dass wir Menschen miteinander existenziell verbunden sind. In unseren Beziehungen, in Dörfern und Städten bis hin zu einer weltweiten Verbundenheit. Ohne miteinander zu kooperieren ist das Überleben der Menschheit in Zeiten des Klimawandels und zunehmender internationaler Gewalt existenziell gefährdet.
Die Utopie eines solidarischen Miteinanders geht zweitens davon aus, dass sich nur durch gemeinsame Anstrengungen die Chancen für ein selbstbestimmtes Leben aller vergrößern lassen. Ob jemand in Freiheit leben kann und wann die Freiheit des einen Grenzen finden muss, um nicht die Freiheit des anderen einzuschränken, das entscheidet sich im demokratischen Miteinander.
Drittens leugnet ein solidarisches Miteinander nicht gesellschaftliche Gegensätze und Interessensunterschiede. Diese wird es immer geben. Aber es bildet einen Rahmen, um unterschiedliche Interessen zugewandt zu verhandeln und gemeinsam Lösungen zu finden. Ein solidarisches Miteinander bedeutet also nicht Gleichförmigkeit, sondern die Anerkennung von Unterschieden und die Freiheit, diese Unterschiede leben zu können.
Für solidarischen Wohnungsbau und Bildunspolitik
Ein Papier der Grundwertekommission hat im vergangenen Jahr den Grundwert der Solidarität neu vermessen und damit die Wertegrundlage für das hier skizzierte Miteinander beschrieben. Dort heißt es: „Diese Solidarität gewinnt ihre Gewissheit und ihre Sicherheit in der Liebe und in der Freundschaft. Sie entspringt dem gemeinsamen Leben mit den Nächsten und den Freunden; im globalen Dorf der Weltgemeinschaft schließt sie aber die vermeintlich Fernsten nicht aus. Sie steht der Verbundenheit mit der eigenen Herkunft, einer wohl begründeten politischen Ordnung, einer gelebten Kultur oder einer die Freiheit ermöglichenden Religion nicht entgegen. …. Wer … will, dass es den Menschen und die Menschheit weiterhin gibt, der kommt nicht umhin, mit ihnen und mit ihr über alle Grenzen hinweg solidarisch zu sein.“
Ist die Vorstellung eines solidarischen Miteinanders nicht nur eine naive Träumerei? Und kann Politik die Art und Weise unseres Zusammenlebens überhaupt beeinflussen? Ich glaube: Ja, ein solidarisches Miteinander kann zu einem politischen Projekt werden. Dieses Projekt drückt sich zum Beispiel aus in einer Wohnungsbaupolitik, die Abschottung vermeidet und Begegnung ermöglicht. Es drückt sich aus in einer Bildungspolitik, die die Wettbewerbslogik aus der Schule hält und gemeinsames Lernen fördert. Es drückt sich aus in einer Politik öffentlicher Güter, die die Privatisierung öffentlicher Räume umkehrt und ein Zusammenkommen an Orten ermöglicht, die vor der Marktlogik geschützt sind. Vieles anderes wäre zu nennen, um die Utopie eines solidarischen Miteinanders konkret werden zu lassen.
Die Idee eines solidarischen Miteinanders hat seit Bellamys Roman von 1887 nichts von ihrer Strahlkraft verloren. Zugleich ist sie umkämpft und unter Druck. Ist es vor dem Hintergrund realistisch, wenn die SPD die Utopie eines solidarischen Miteinanders in den Vordergrund rückt? Ja, ungefähr so realistisch wie die Forderung nach freier Schulbildung 1869 oder die nach gleichem Wahlrecht für Mann und Frau 1875. Es lohnt sich, für das solidarische Miteinander zu kämpfen. Und trotzdem darf jeder seinen Regenschirm behalten. Versprochen.
Der Beitrag wurde von Christian Krell nicht in dienstlicher Funktion verfasst.
Prof. Dr. Christian Krell lehrt Staatsrecht und Politik an der Hochschule des Bundes und ist Honorarprofessor der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Er ist Mitglied der Grundwertekommission der SPD und war Büroleiter der FES für die nordischen Länder mit Sitz in Stockholm.