Die verneinten Nationen: Warum die UNO Putin so wenig entgegensetzt
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Der Moment, an dem die regelbasierte Weltordnung unserer Zeit auf den Kopf gestellt wurde, lässt sich auf die Minute genau bestimmen. Am Mittwoch war der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York um 9.30 Uhr abends auf Bitten der ukrainischen Regierung zu einer Sondersitzung zusammengekommen – die zweite nächtliche Sitzung innerhalb weniger Tage. Doch noch während die versammelten Spitzendiplomaten ihre vorbereiteten Statements verlasen, meldeten sozialen Medien gegen 9:50 Uhr massive Explosionen aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew und aus Kharkiv an der östlichen Grenze zu Russland. Botschafter*innen schauten auf ihre Smartphones, doch zunächst gingen die geplanten Reden mit dringenden Appellen zur Zurückhaltung unverändert weiter. Diplomat*innen verlasen Aufrufe zur Mäßigung, die von der Realität längst überholt worden waren.
In Moskau verkündete der russische Präsident seine „besondere Militäroperation“ und den von langer Hand vorbereiteten militärischen Einmarsch in das Nachbarland. Der russische UN-Botschafter, turnusgemäß Vorsitzender des Sicherheitsrats, leitete daher absurderweise eine Sitzung, die durch den Rechtsbruch seiner eigenen Regierung eine völlig neue dramatische Bedeutung erlangte.
Show-down im Sicherheitsrat
Dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, Antonio Guterres, blieb angesichts der Eskalation nur, seinen vorherigen Appell zu erneuern, dem „Frieden eine Chance“ zu geben. Sichtlich persönlich betroffen, stellte er sich eindeutig gegen die russische Aggression und forderte einen sofortigen Truppenabzug aus der Ukraine: „Im Namen der Menschlichkeit bringen Sie Ihre Truppen nach Russland zurück. Im Namen der Menschlichkeit beginnen Sie nicht den vielleicht verheerendsten Krieg seit Anfang des Jahrhunderts.“
Der Show-down im Sicherheitsrat und die zynische Gleichzeitigkeit von formalen Verhandlungen und brutaler Realität verdeutlicht dabei nicht nur die aktuelle Schwäche der regelbasierten Weltordnung, sondern auch die inhärenten Herausforderungen der Diplomatie bei den Vereinten Nationen. Denn es ist und bleibt das unauflösbare Dilemma der Weltorganisation, dass sie genau den politischen Goodwill zum reibungslosen Funktionieren benötigt, dessen Abwesenheit ihre Existenz erforderlich macht.
Russlands Agression erneut im Sicherhetsrat
Vorausgegangen waren der Eskalation in der Ukraine wiederholte Versuche der Vereinten Nationen, die Krise zu entschärfen. Noch am vorvergangenen Donnerstag hatte der US-Außenminister Antony Blinken einen Last-Minute-Stopp in New York eingelegt, um im Sicherheitsrat überraschend persönlich auf eine diplomatische Lösung zu drängen. Auch in der UN-Generalversammlung war es zu einer Sondersitzung gekommen. Wie sich am Donnerstag dann zeigte, vergeblich.
Am heutigen Freitag setzt sich der UN-Sicherheitsrat nun erneut mit der russischen Aggression auseinander. Laut Agenda des „8979. Meetings“ soll sich der Sicherheitsrat spätestens gegen 15 Uhr Ortszeit mit dem Krieg in der Ukraine befassen. Laut Nachrichtenagentur Reuters wird ein von den USA eingebrachter Resolutionsentwurf Russland auffordern, „unverzüglich, vollständig und bedingungslos alle seine Streitkräfte abzuziehen“ und seine Anerkennung separatistischer Regionen in der Ostukraine rückgängig zu machen. Zugleich bekräftigt der Entwurf „die Souveränität, Unabhängigkeit, Einheit und territoriale Integrität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen“.
Da Russland als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats Resolutionen per Veto verhindern kann, ist mit einem Scheitern des Antrags zu rechnen. Ziel der USA ist hier daher nicht so sehr eine tatsächliche Zustimmung zur Resolution, sondern eine möglichst eindeutige moralische und symbolische Isolation Russlands. Von diesem Wunsch getragen ist augenscheinlich auch die aktuelle Aufforderung Norwegens an alle UN-Mitgliedstaaten, den Resolutionsentwurf im Sicherheitsrat als Co-Sponsor zu unterstützen.
Wie reagiert die Welt auf Russlands Aggression?
Das weitere diplomatische Vorgehen in den Vereinten Nationen dürfte sich in den folgenden Tagen dabei weitgehend an den Reaktionen auf die russische Annexion der Krim im Jahr 2014 orientieren. Auch damals scheiterte eine Verurteilung im Sicherheitsrat am Widerstand Russlands. Die völkerrechtliche Verurteilung des von Russland durchgeführten Referendums über die Zukunft der Krim wurde daraufhin in einer Resolution der UN-Generalversammlung in die Wege geleitet, in der jedes UN-Mitgliedsland stimmberechtigt ist.
Zum jetzigen Zeitpunkt ist davon auszugehen, dass die 193 Vertreter der Generalversammlung Anfang der Woche – womöglich bereits am Montag – zusammenkommen werden, um über den Ukrainekrieg zu beraten. Obwohl Resolutionen der Generalversammlung anders als Beschlüsse des Sicherheitsrats rechtlich nicht bindend sind, ist die Positionierung dort von Bedeutung. Denn in der Generalversammlung wird sich kommende Woche ablesen lassen, wie es weltweit tatsächlich um das Eintreten für eine regelgeleitete Weltordnung und eine klare Verurteilung der russischen Aggression bestellt ist. Das Votum dort wird zum eigentlichen Seismografen für das Ausmaß der geopolitischen Erschütterung und für den Einfluss Russlands auf internationalem Parkett.
Stilles Abwenden vom Frieden
„Die Generalversammlung wird der Ukraine starke rhetorische Unterstützung bieten, aber wenig materiellen Einfluss auf den Konflikt haben“, analysiert Richard Gowan, Leiter der International Crisis Group in New York, das bestehende Spannungsverhältnis. „Viele UN-Mitglieder sympathisieren mit Kiew, aber praktisch kann die Versammlung relativ wenig tun. Und einige Mitglieder werden Russland aus geopolitischen Gründen immer noch nicht zu sehr vor den Kopf stoßen wollen, auch wenn sie von seinem Vorgehen angewidert sind.“
Nach Medienberichten sind US-Spitzendiplomat*innen – und auch Außenminister Blinken persönlich – in diesen Stunden damit befasst, in direkten Gesprächen eine möglichst umfassende Verurteilung in der Generalversammlung zustanden zu bringen.
Vor acht Jahren stimmten knapp 100 Staaten klar gegen die russische Annexion der Krim. Elf Länder stimmten mit Russland, 58 enthielten sich, fast zwei Dutzend blieben der Abstimmung fern. Angesichts dieser Stimmungslage schauen Beobachter nun mit Spannung auf die Reaktion der Generalversammlung auf den neuerlichen russischen Wertebruch. Angesichts dieser Bilanz befürchtet manch ein*e Beobachter*in, dass die Erschütterung der Weltordnung dann nicht nur in den Bomben und Granaten in der Ukraine abzulesen ist, sondern auch in einem stillen Abwenden der internationalen Gemeinschaft von den Prinzipien des Friedens und der Gewaltlosigkeit in New York.
leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in New York und ist Mitglied der SPD-Grundwertekommission. Zuletzt erschien vom ihm „Vom Ende der Freiheit. Wie ein gesellschaftliches Ideal aufs Spiel gesetzt wird“ (Dietz 2021).