Die SPD muss Probleme machen, statt nur Sorgen und Ängste ernst zu nehmen
„Sorgen und Ängste ernst nehmen“. Das ist aktuell der große Schlachtruf völkisch-nationaler Kreise (selbst ernannt natürlich: „Besorgte Bürger"). Manchmal hört man ihn auch in konservativen Kreisen, selten auch in sozialdemokratischen. Leider, denn der Satz ist grundfalsch. Und der Satz enthält ein Paradox. Dazu muss man seine gesprochene und seine praktische Seite trennt, dann versteht man, dass hinter der Forderung eine Falle steckt.
Die gesprochene Seite des Satzes
Gesprochen ist der Satz nichts anders als ein Anspruch. Ein Anspruch darauf, dass (noch nicht) gewählte Politiker*innen mit Menschen nur sprechen müssten, um ihre „Sorgen und Ängste“ aufzusaugen, wie ein Staubsauger, sie von innen nach außen zu wenden und daraus, wie durch Zauberhand, die Lösungen zu entwickeln, die wir so dringend brauchen. Eine vollkommen idiotische Vorstellung. Und gefährlich dazu.
In dieser Logik steckt nämlich ein populistischer und damit anti-demokratischer Kern. Dazu ein kurzer Exkurs in den Populismus. Die Logik des Populismus lässt sich, kurz gesagt, auf den angenommenen Widerspruch zwischen homogenen Eliten und homogenem „Volk“ herunterdampfen. Homogenität heißt hier: Auf einer Seite haben alle dasselbe Ziel bzw. Interesse. In der Logik des Populismus ist das Volk dabei heilig. Es steht über allem. Und nicht nur das. Es ist auch moralisch rein. Als Ganzes, als Einheit, weiß es, was es will. Alle, die etwas anderes wollen, sind folglich unmoralisch, fies, gemein und böse. Die homogenen Eliten wiederum korrumpieren das heilige Volk mit ihren Elite-Ideen, so verrückte Dinge, wie Rechtsstaat, Gewaltenteilung, freie Kultur, Meinungsäußerung und Presse, staatliche Solidarsysteme - sowas abgehobenes eben.
Und hier kommen die*der Populist*in und die Logik des gesprochenen „Ängste und Sorgen ernst nehmen“ ins Spiel. Denn in der Logik des Populismus ist die*der Populist*in ja selbst kein aktiver Teil im politischen Spiel. Nein, nein, sie*er verkündet lediglich aus seiner Sicht die homogene Meinung des moralisch-reinen Volkes.
Realität wird passend gemacht
Antidemokratisch wird diese Logik durch ihre Homogenitätsannahme, sie ist antiplural. Und wenn das Volk weiß, was es will, werden Parteien überflüssig. Einen offenen Meinungsaustausch gibt es nicht mehr. Und in der Realität wird eben - wie immer im Autoritarismus - was nicht passt, passend gemacht, mit Maulkörben, Arbeitsverbot, Knast für alle, die nicht der Volksmeinung entsprechen. Und genau diese Logik trifft das gesprochene Ernstnehmen von Sorgen und Nöten: die Probleme aufnehmen, die auf der Straße liegen. Einfach nur „zuhören. Das Gehörte nehmen und umkehren und schon ist die Lösung da. Darin steckt die Kapitulation des Politischen.
Manche gehen möglicherweise dem Fehlschluss auf dem Leim, dass Politik sich im „Streit um die beste Lösung“ erschöpft. Das ist aber zu kurz gegriffen. Politik heißt auch, sich um Probleme zu streiten. Denn politisch ist, um die Köpfe der Menschen zu kämpfen. Egal, ob ihr neoliberal, christlich-konservativ oder jungsozialistisch seid. Gesellschaftspolitik beginnt erst da, wo ihr den Streit über Problemsichten beginnt. Sie endet da (oder beginnt erst gar nicht), wo sich keiner mehr traut dem Volk unterschiedliche Probleme und (!) Lösungen anzubieten. Beides gehört zu einem politischen Diskurs dazu.
Dies nicht zu tun, ist wie vor euerem Blumenbeet zu stehen und immer wieder das gleiche anzubauen und gar nicht erst zu fragen, was mit ein bisschen Arbeit möglich wäre. Wer will schon so gärtnern? Gesellschaft ist nicht Malen nach Zahlen, wo immer dasselbe Clownsbild rauskommt. Wir machen Gesellschaft und sind Teil davon.
Macht selber Probleme!
Hört also auf, Probleme ernst zu nehmen, macht selber Probleme! Oder macht es nicht, dann machen es aber andere. Und wie sie das tun. Denn gerade die, die am lautesten für sich in Anspruch nehmen, „Sorgen und Probleme ernst zu nehmen“ sind die, die am meisten Probleme schaffen. Die AfD schafft Probleme, weil sie politische bzw. gesellschaftliche Probleme aus ihrer Sicht definiert. Konsequent problematisiert sie Elemente, um ihre Probleme an den „kleinen Mann“ zu bringen. Dankenswerterweise werden mit den Problemen auch immer gleich passende Lösungen geliefert. Das an sich ist jetzt nicht furchtbar neu, so funktioniert Politik. Aber die AfD problematisiert eben ihre Themen: Migration, Flucht = Kriminalität zum Beispiel.
Das bedeutet nicht, dass sich Politik nicht mit Sorgen und Problemen von Menschen auseinandersetzen soll. Im Gegenteil: Menschen zuzuhören und diverse Realitäten wahr- und anzunehmen ist ein zentraler Bestandteil guter Politik. Was fehlt, ist die eigene Analyse, die Klarheit auch „Probleme zu schaffen“ oder anders formuliert: Dinge zu problematisieren. Ursachen hervorzuheben, herauszuarbeiten, pointiert, klar, deutlich. Diese Probleme gerne in einen größeren Kontext zu setzen. (Stichwort: Kapitalismuskritik) Das ist die Aufgabe von Politik. Wer die Logik von Politik nur darin sieht, bestehende Probleme zu lösen, macht sich abhängig von denen, die diese Probleme definieren.
Kümmert euch, um eure eigenen Probleme!
Die Logik der #Aufstehen-Bewegung zieht sich übrigens genau darauf zurück. In vielen Diskussionen, die ich mit Unterstützer*innen von #Aufstehen geführt habe, kam immer wieder eine ähnliche Aussage zum Vorschein: Menschen sind halt fremdenfeindlich, deswegen können wir nicht einfach nur liberal sein. Hier wird ein Problem gelöst, das andere geschaffen haben. Die AfD vagabundiert seit 2013 durch politische Debatten und definiert Fremde als Problem für alles - selbst im Bereich Klimawandel. Jedem Thema, jeder noch so fachfremden politischen Forderung, wird das Problem „Migration/Fremde/Ausländer“ untergeschoben. Die Problemdefinition ist immer der Kern für jeden Lösungsansatz. Und diese Problemdefinition bleibt hängen. Sie wird zum Fundament eines Gedankengebäudes des völkischen Nationalismus.
Ich würde auf diesem fremdenfeindlichen Fundament nicht mein gedankliches, ökologisch-korrektes, solidarische Genossenschaftshaus bauen. Gerade progressive, linke oder jungsozialistische Politik muss dem etwas entgegensetzen. Sie sollt eben nicht der Erzählung des völkisch-nationalen Populismus auf den Leim gehen und nur Probleme übernehmen, die ebenjene Autoritären erst „herbeireden“ also definieren. Wir sollten vielmehr unsere eigenen Probleme schaffen. Die Kraft des völkisch-nationalen Populismus liegt auch in seinen gesamtgesellschaftlichen, übergreifenden Erklärungsversuchen. Ein höheres Ganzes, das Big Picture - auch das gehört zum Problememachen dazu. Das erklärt für mich auch ein Stück des Erfolgs der Grünen, die über jedes Problem die Rettung der Erde (als ökologisches Objekt) stellen und stellen können. Was also ist das große Bild der modernen Sozialdemokratie?
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ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD-Kommunalfraktion in Berlin Treptow-Köpenick und spricht im SoziPod über die Zukunft der SPD.