Die SPD muss eine Vision für die Zukunft der EU liefern
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Die SPD ist weiterhin auf der Suche nach einem Zukunftsprojekt. Diese Situation ist nicht neu und es bleibt zu hoffen, dass die SPD als Team aus Parteiführung, Regierungsmannschaft und Bundestagsfraktion diese Aufgabe gemeinsam angehen wird. Der Zeitpunkt passt, da sich die Politik des Landes gerade für die Zeit nach Angela Merkel positioniert. Aber die Einheit der Partei und das Einbinden der Stärken aller relevanten Akteur*innen ist eine Grundvoraussetzung für den Erfolg dieser Mission.
Neues politisches Angebot auf drängende Fragen
Gelingt dies, hat die SPD eine echte Chance, Deutschland eine neue politische Richtung anzubieten. Keine der relevanten Parteien hat bisher ein überzeugendes Angebot für die Herausforderungen unserer Zeit vorgelegt. Die SPD würde also einen dringenden Bedarf bedienen, wenn ihr dieses zielführende Zukunftsangebot gelänge. Dieses neue politische Angebot muss nicht nur Antworten für die drängenden Fragen Deutschlands bieten, sondern auch eine Vision für die Zukunft der Europäischen Union (EU) liefern. Die alte Maxime, dass deutsches Interesse europäisches Interesse ist, gilt weiter. Daran wird sich auch in absehbarer Zukunft nichts ändern.
Insbesondere Vizekanzler Olaf Scholz hat in jüngster Vergangenheit sein Augenmerk auf die Rolle Deutschlands in der EU gelegt. Das ist der richtige Ansatz, denn auch die EU bereitet sich auf eine neue Ära vor; eine Ära mit großen inhaltlichen Herausforderungen nach dem ersten Austritt eines wichtigen Mitgliedstaates. Es beginnt also auch in Brüssel in vielerlei Hinsicht eine neue Zeitrechnung.
Klima, Digitalisierung und Wirtschaft als drängende Themen
Auf europäischer Ebene ist zu allererst der Schutz und Ausbau der eigenen demokratischen Stabilität eine Kernaufgabe. Wie geht man damit um, dass einzelne Mitgliedsstaaten ihre eigenen demokratischen Strukturen unterwandern? Wie kann die EU nach dem Brexit einen neuen Weg finden, der den Selbstzweck der EU erneuert? Die EU war und bleibt ein Friedens- und Wohlstands Projekt. Vor dem neuen Hintergrund muss sie darüber hinaus aber auch ein Teilhabe- und Kulturprojekt werden. Die Feinde Europas arbeiten sehr stark auf der kulturellen, emotionalen Ebene. Es wird Zeit, dass die EU auf diesem Spielfeld etwas entgegensetzt.
Die inhaltlichen Themen, bei denen die EU in den nächsten Jahren deutliche Fortschritte machen muss, sind Klima, Digitalisierung sowie Wirtschaft und Soziales. Wie kann die EU durch eine gemeinsame Strategie vermeiden, dass in einigen Ländern umweltschädliche Technologien auslaufen wohingegen sie in Nachbarländern weiter wachsen und gefördert werden? Wie kann Europa im Zuge der Digitalisierung sein eigenes, charaktergebendes, Wirtschafts- und Sozialmodell erhalten und gleichzeitig in der digitalen Ökonomie global wettbewerbsfähig sein? Es ist ziemlich klar, dass in der ersten Welle der Digitalisierung der Anschluss an die führenden Nationen der Welt verpasst wurde. Aber wie kann das in der nächsten Runde besser werden? Wie kann sich das soziale Europa mit einem eigenen, starken Modell zwischen den Polen des libertären Digitalkapitalismus amerikanischer Prägung und des chinesische Staatskapitalismus behaupten?
Deutsche Führungsrolle erwartet
Auf all diese Fragen muss die EU Antworten liefern, damit sie in sich gestärkt auch auf globaler Ebene eine wichtige Stimme hat. Von Deutschland wird in diesem Zusammenhang zurecht eine Führungsrolle erwartet. Nicht nur, weil wir im zweiten Halbjahr 2020 die Ratspräsidentschaft innehaben werden. Gemeinsam mit anderen führenden Nationen liegt es an gerade auch an Deutschland, überzeugende Politikinhalte zu entwickeln. Das liegt nicht nur in unserem eigenen internationalen Interesse, sondern würde die nationale Politik in vielerlei Hinsicht erheblich leichter machen, wenn sie inhaltlich europäisch flankiert wäre.
Für die SPD bedeutet das, die europäische Ebene als Querschnittsaufgabe in allen Feldern ihrer politischen Erneuerung mitzudenken. Die Partei hat eine große europäische Tradition und sie dient weiterhin vielen sozialdemokratischen Parteien, trotz aller Schwierigkeiten, als politisches Vorbild und thematischer Impulsgeber. Dieser Rolle muss die SPD gerecht werden. Aus eigenem Interesse im Rahmen einer erfolgreichen Erneuerung und als Beitrag zur europäischen Zukunft Deutschlands.
Dieser Text ist vor der Corona-Pandemie entstanden und Teil unserer Serie zu sozialdemokratischen Visionen für die 20er-Jahre. Im ersten Beitrag beschäftigte sich Christian Krell mit solidarischem Miteinander.
forscht an der London School of Economics and Political Science (LSE). Er ist Editor-in-Chief von „Social Europe“ und Mitglied der SPD-Grundwertekommission.