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Meinung

Der europäische Wiederaufbau-Fonds ist eine Frage gelebter Solidarität

Um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise abzufangen, wollen die EU-Staaten einen Wiederaufbau-Fonds auflegen. Er ist großartige Möglichkeit, nicht nur endlich Solidarität zu üben, sondern zugleich überall in Europa unsere gemeinsame Demokratie wieder mit Leben zu füllen.
von Gesine Schwan · 04. May 2020
Hohe Erwartungen: Am 1. Juli 2020 beginnt die halbjährige EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands.
Hohe Erwartungen: Am 1. Juli 2020 beginnt die halbjährige EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands.

Anders als bei der Finanz- und vor allem der Krise um Griechenland im Jahre 2015 lässt die SPD für die Finanzierung des europäischen Wiederaufbau-Fonds endlich einen deutlicheren Willen zur europäischen Solidarität erkennen. Das war dringend fällig nach dem peinlichen und fatalen Fehltritt, gegenüber Italien den Export von Medizingütern zu verwehren (er ist glücklicherweise zurückgenommen worden) und nach der vorwiegend negativen Abwehrrhetorik gegen Corona-Bonds. Die SPD ließ zunächst leider auch keinen Willen erkennen, konkrete Alternativen für eine solidarische europäische Finanzierung vorzuschlagen. Der ESM hat den Nachteil, dass er „bedürftigen“ Staaten Kredite erleichtern soll, die er damit diskriminiert.

Rückbesinnung auf den Grundwert der Solidarität

Mit der gemeinsamen Festlegung auf einen Wiederaufbau-Fonds und der Bereitschaft Deutschlands, erkennbar zusätzlich in diesen Fonds einzuzahlen, ist nun ein großer Schritt nach vorn für materielle Solidarität getan worden. Vieles bleibt allerdings zu konkretisieren, insbesondere die Frage, ob es sich um Zuwendungen oder um Kredite für den Wiederaufbau oder um eine Mischung handeln soll. Jenseits der ökonomischen Präzisierungen möchte ich den Blick auf die Chancen lenken, die mit einem so riesigen neuen Schritt für sozialdemokratische Politik eröffnet werden – wenn man sie nutzt! 

Grundsätzlich ist dafür eine Rückbesinnung auf unser Verständnis der Grundwerte, insbesondere von Solidarität hilfreich. Die Grundwertekommission hat dazu im Herbst 2018 ein Papier veröffentlicht, das ich allen Genossinnen und Genossen ans Herz lege.

Partnerschaft statt moralische Überheblichkeit

Solidarität heißt in der sozialdemokratischen Tradition nicht Barmherzigkeit oder Armenhilfe, sondern gegenseitiges Einstehen von Partnern füreinander im Bewusstsein, dass wir alle unverschuldet in Not geraten können. Unter diesem Aspekt ist es unangebracht und für unsere europäischen Partner demütigend, wenn wir immer wieder betonen, dass wir Deutschen jetzt den anderen helfen können, weil wir vorher gespart haben. Es ist auch falsch, denn unser Staat hat in den vergangenen 30 Jahren viel weniger gespart als der italienische! Das bringt keine partnerschaftliche Solidarität zum Ausdruck, sondern Ignoranz und moralische Überheblichkeit, die den europäischen Nachbarn implizit vorwirft, sie hätten nicht sorgsam genug gewirtschaftet. Solidarität wird auf diese Art und Weise in der Wahrnehmung der anderen leicht zunichte gemacht.   

Im Übrigen können auch wir Deutschen die Milliarden, die wir jetzt einbringen wollen, nicht aus unserem Sparschwein bezahlen. Hier bietet sich die Lektüre des Buchs von David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre an, das deutlich macht, dass Schulden keineswegs immer zurückgezahlt worden sind. Wir Deutschen haben übrigens unsere Schulden aus dem Zweiten Weltkrieg zum größten Teil auch nicht bezahlt. Nur so war das durch Kredite finanzierte Wirtschaftswunder möglich.

Schulden ökonomisch funktional begreifen

Die aktuelle Krise bietet die Chance, öffentliche Schulden nicht moralisch, sondern nüchtern ökonomisch funktional zu begreifen und vielleicht wenigstens nachträglich mehr Verständnis für unsere griechischen Freunde 2015 aufzubringen. Die haben wir nämlich mit Austerität bestraft, damit sie schnell auf Kosten ihrer öffentlichen Güter und ihrer Rentenversicherung die Schulden zurückzahlen. Dadurch wurde die griechische Wirtschaft unnötig geschwächt. Dabei war jedem Einsichtigen klar, dass diese gigantischen Schulden in absehbarer Zeit nicht zurückgezahlt werden können.

Daraus folgt etwas für die Perspektive auf unsere  zukünftige Europapolitik: Handeln wir als Europäer und als Partner, um eine gemeinsame demokratische und gerechtere Zukunft zu gestalten, oder als Deutsche, die mit unverwandtem Blick auf die Vergangenheit eigentlich tief im Herzen gegen alle Rhetorik meinen, wir kämen am besten allein ohne unsere „armen Nachbarn“ zurecht?

Wenn wir für die Zukunft gestalten wollen, dann bietet der neue Fonds eine großartige Möglichkeit, nicht nur endlich Solidarität zu üben, sondern zugleich überall in Europa unsere gemeinsame Demokratie, das heißt unseren Grundwert der politischen Freiheit wieder mehr mit Leben zu erfüllen. Um z.B. nachhaltiger zu investieren und zu wirtschaften im Dienst von Klimaschutz, Sparsamkeit bei den Ressourcen, Suffizienz oder Kreislaufwirtschaft, liegt es für viele nahe, durch staatliche oder europäische Auflagen für Subventionen oder Ausschreibungen, d.h. zentral politisch zu steuern. Stattdessen, sollte man die dezentralen Akteure, die Städte und Kommunen, die weltweit in dieser Hinsicht viel innovativer und effektiver handeln als die nationalen Regierungen, vornehmlich finanziell ausstatten. Auch hier könnte man allgemein gehaltene Förderrichtlinien durchaus formulieren.

Demokratische Teilhabe aller Bürger*innen

Wenn Kommunen aber mit Entwicklungsbeiräten im Sinne der Nachhaltigkeitsziele 2030 – zu denen Bürgermeister*innen neben ihren Abgeordneten und Verwaltungen die organisierte Zivilgesellschaft und die Unternehmen einladen können – den Bürgern mehr Möglichkeiten bieten, bei der Beratung über die nachhaltige Entwicklung ihres Alltags mitzubestimmen, dann  stärken wir nicht nur Nachhaltigkeit, sondern auch die Demokratie durch effektive demokratische Teilhabe. Die gehörte immer zu den programmatischen Zielen der Sozialdemokratie, die ihren Grundwert Freiheit nicht nur privat, sondern auch als politische Teilhabe und Übernahmen von öffentlicher Verantwortung begriffen hat.

Solidarität, nachhaltige Gestaltung der Zukunft und demokratische Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger im Dienst von Gerechtigkeit und Gemeinwohl – sie könnten mit dem neuen europäischen Fonds einen regelrechten Sprung nach vorn machen!

Autor*in
Gesine Schwan

ist Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission.

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