Meinung

Corona und die Schulden: Vorwärts mit neuen Instrumenten statt Stillstand mit der alten Null

Um die Folgen der Corona-Krise zu bewältigen, nimmt die Bundesregierung neue Schulden auf. Sie einfach nur möglichst schnell zurückzahlen zu wollen, wäre falsch. Stattdessen sollten wir die Finanzpolitik auf eine schnellstmögliche und nachhaltige Rückkehr zur Vollbeschäftigung ausrichten – mit neuen Instrumenten.
von Maximilian Krahé · 19. Juni 2020
Viele Kommunen haben horrende Schulden, die sie aus eigener Kraft nicht tilgen können.
Viele Kommunen haben horrende Schulden, die sie aus eigener Kraft nicht tilgen können.

Corona ist teuer. Um Menschen und Wirtschaft abzusichern, haben Staaten weltweit viel Geld in die Hand genommen. Jetzt, da das Abflachen der Infektionskurve vielerorts gelungen ist und erste Schritte der Lockerung gewagt werden, ist es ein guter Zeitpunkt zu fragen: Mit welcher Geld- und Finanzpolitik wollen wir nach Corona weitermachen und diese Kosten bewältigen?

Eine Antwort auf die Frage heißt: in Zukunft wieder sparen. Doch so einfach und schlüssig wie das klingt, ist es nicht. Exzessives Sparen kann kurzsichtig und kontraproduktiv sein. Denn Finanz- und Geldpolitik sind menschengemachte Buchhaltungs- und Steuerungssysteme, die die Realwirtschaft entweder fördern oder hindern können. Haushaltszahlen, ob rot oder schwarz, sind kein Selbstzweck. Weder öffentliche Schulden noch die Geldpolitik können per se gut oder schlecht, richtig oder falsch sein; sie müssen stattdessen stets anhand ihrer kurz-, mittel-, und langfristigen Konsequenzen für Beschäftigung, Produktivität, und Nachhaltigkeit bewertet werden.

Ist dauerhafte Verschuldung gefährlich?

Aus dieser Perspektive sind die Risiken eines „so schnell wie möglich“-Sparkurses klar erkennbar: Während in den USA, dem Vereinigten Königreich, und Japan die Arbeitslosigkeit nach 2009 rapide und konstant fiel, legte sich die Eurozone mit der Austeritätswende von 2010 eine zweite Rezession auf. Anstatt zu fallen, stieg die Arbeitslosigkeit so erneut und bis heute spürbar an.

Das Argument für eine längerfristig expansive Finanz- und Geldpolitik ist klar: Indem sie die Realwirtschaft ankurbelt, macht sie es möglich mehr Waren und Dienstleistungen zu produzieren, so dass es einfacher wird, die Kosten der Coronakrise schnell zu überwinden.

Aber ist dauerhafte Verschuldung nicht gefährlich? Oder andersherum gefragt: wenn eine expansive Politik Vollbeschäftigung, eine bessere Ausnutzung unserer Kapazitäten, und damit mehr Wohlstand ermöglicht, warum ist unsere Geld- und Finanzpolitik dann nicht permanent expansiv?

Hier muss zwischen einer echten und einer falschen Gefahr unterschieden werden. Die falsche Gefahr besteht darin, aus der Luft gegriffene Defizit- oder Schuldenzahlen zu überschreiten. Japan zum Beispiel hat einen Schuldenstand von 240 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts – viermal so hoch wie Deutschland und fast doppelt so hoch wie Italien—ohne dass dadurch die Wirtschaft leidet oder die Handlungsfähigkeit des Staates eingeschränkt wird. Umgekehrt erlebte der französische Staat in den frühen 80er Jahren mehr als 10% Inflation, mehrere Währungskrisen, und investitionsdrosselnde Zinsen von bis zu 22 Prozent, und das trotz eines Schuldenstandes von unter 30 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts.

Die wirkliche Gefahr heißt Inflation

Die reale Gefahr hingegen ist Inflation. Hohe Schulden können rein technisch stets durch Intervention der Zentralbank tragfähig gemacht werden, ob durch zinsenreduzierende Anleihekäufe auf dem Sekundärmarkt—sprich QE—oder durch die direkte Finanzierung von Staatsausgaben durch die Zentralbank, wie es gerade die Bank of England macht. Doch wer fiskal- oder geldpolitisch zu sehr aufs Gas drückt, der holt sich, wie in fast allen Industrienationen in den 1970ern geschehen, wachsende Inflation ins Haus. Dies kann, wie am Fall Frankreich sichtbar, sowohl bei hohen als auch niedrigen öffentlichen Schulden geschehen, abhängig von einer Vielzahl an Faktoren. Daher gilt: nur, wenn Inflation frühzeitig erkannt und wirksam bekämpft werden kann, kann verantwortungsvoll auf Vollbeschäftigung gezielt werden.

Die größten Hindernisse für eine vollbeschäftigungsorientierte Geld- und Finanzpolitik nach Corona sind also nicht Schulden oder Defizite, sondern die folgenden zwei: Erstens fehlt ein effektives Inflationsfrühwarnsystem. Unsere jetzigen Erhebungsmethoden sowie die normale Preis- und Lohnfluktuation einer dynamischen Wirtschaft erlauben uns erst einige Quartale nach Einsetzen eines Inflationsschubs zu erkennen, ob es sich dabei um eine vereinzelte Welle oder einen strukturellen Inflationsdruck handelt.

Es reicht nicht, die Schuldenbremse zu ersetzen

Zweitens besitzen wir de facto heute nur ein Mittel, um Inflation effektiv zu bremsen: die Makro-Klemme. Diese besteht darin, die Wirtschaft insgesamt zu drosseln, um so die Lohnentwicklung—ein wichtiger Inflationstreiber—mittels eines schwachen Arbeitsmarkts zu bremsen. Ob diese Drosselung durch höhere Steuern, weniger Staatsausgaben oder höhere und damit investitionsbremsende Zinsen geschieht, führt dabei zwar verteilungs- und wirtschaftspolitisch zu unterschiedlichen Konsequenzen, doch in jedem Fall ist es bittere Medizin: es ist stets der Schmerz im Arbeitsmarkt, der die Bremswirkung auf Löhne und so die Hauptwirkung auf Preise erzielt. So wird schnell klar, warum sich die Politik—bis tief ins linke Spektrum—nicht traut, geld- und wirtschaftspolitisch ernsthaft aufs Gas zu drücken und wirkliche Vollbeschäftigung zu erreichen, auch wenn dies gerade nach tiefen Einschnitten wie 2008 oder Corona höchst sinnvoll wäre.

Um Coronas wirtschaftliche Folgen schnell zu überwinden, reicht es also nicht, nur die Schuldenbremse durch eine volkswirtschaftlich sinnvolle Fiskalregel zu ersetzen—auch wenn dies dringend nötig ist—sondern es gilt vor allem, bessere und differenziertere Inflationsbremsen zu entwickeln. Bildlich gesprochen: Wer erst an der Mauer bremst, der fährt zurecht im Schritttempo. Doch wer sich gute Bremsen einbaut, der kann verantwortungsvoll vorankommen.

Alternative Ansätze gibt es genug

An vielversprechenden Ansätzen mangelt es nicht: unser statistischer Apparat könnte zum Beispiel mittels der verstärkten Nutzung digital verfügbarer Preisdaten—anstatt umfragebasierter Preisindizies – darauf ausgerichtet werden, Inflation detaillierter und schneller zu messen. Gleichzeitig könnten Standardanalysen eingeführt werden, um die Ursachen von sektor- oder ortsspezifischen Preisanstiegen näher zu bestimmen.

Wenn auf diese Weise bessere Inflationsdaten zur Verfügung stehen, könnte ein breites Instrumentarium verwendet werden, um Preisanstiege gezielt zu bekämpfen. Werden in einem Sektor oder an einem bestimmten Ort Preisanstiege festgestellt, die vor allem auf steigende Margen zurückzuführen sind, könnten jene zu Prioritätsfällen für die Wettbewerbsbehörden erklärt werden. Dort, wo die Ursachen im regionalen Fachkräftemangel liegen, könnten Mobilitätspauschalen, lokale Mietendeckel, und öffentliche Investitionen in Wohnraum und Infrastruktur Flaschenhälse beheben. Dort, wo die Ursachen in einem gesamtgesellschaftlichen Fachkräftemangel liegen, könnten gezielt und in Kooperation mit Gewerkschaften, IHKs und Arbeitgeberverbänden Aus- und Umbildungsmaßnahmen aufgesetzt werden.

Die Bauteile liegen bereits vor

Das geldpolitische Instrumentarium könnte genutzt werden, um Preisanstiege in einzelnen Anlageklassen, insbesondere im Wohnraum, entgegenzutreten, zum Beispiel indem die Kreditvergabe für bestimmte Zwecke gezielt an höhere Eigenkapital-anforderungen geknüpft wird. Auch kann Geldpolitik genutzt werden, um ohne zeitintensive Gesetzgebungsverfahren kurzfristig Kaufkraft aus dem Markt zu nehmen, zum Beispiel indem Sparern direkt bei der Zentralbank Festgeldkonten zugänglich gemacht werden, auf denen pro Kopf eine bestimmte Summe, z.B. bis zu 10.000 Euro, zu attraktiven Zinsen, z.B. drei bis fünf Prozent, angelegt werden kann.

Mit anderen Worten: die Bauteile für ein differenzierteres, stärkeres, und schmerzfreieres Bremssystem liegen bereits vor uns. Jetzt gilt es, sie so schnell wie möglich in unser geld- und finanzpolitisches Instrumentarium einzubauen, auch durch den Aufbau der erforderlichen Statistik- und Verwaltungsstrukturen. Wenn uns dies gelingt, können wir nach Corona schnellstmöglich zur Vollbeschäftigung zurückkehren—und dieses Mal ohne unfreiwillige Teilzeit, Scheinselbstständigkeit, und andere prekäre Arbeitsverhältnisse en masse—ohne uns von schwarzer Null, Schuldenbremsen oder ähnlich grobschlächtigen Maßnahmen aufhalten zu lassen.

Autor*in
Maximilian Krahé

ist Mitgründer des Dezernat Zukunft, Inhaber des Chaire SFPI an der Académie royale de Belgique, und hat in politischer Theorie in Yale promoviert.

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