Christoph Sieber: Wie viel Lametta braucht die Demokratie?
Thomas Koehler/photothek.net
Wir müssen der AfD dankbar sein für ihren Aufstieg. Sonst hätten wir vielleicht gar nicht bemerkt, wie schlecht es um die Demokratie steht: Dass im Zuge der Fluchtbewegungen Menschen zu uns kommen, die unsere Werte nicht teilen, ist nämlich nicht das größte Problem.
Das kapitalistische Versprechen ist widerlegt
Viel schwerer wiegt, dass sie auf eine Gesellschaft treffen, die völlig entwurzelt ist. Eine Gesellschaft , die außer dem neoliberalen Mantra des höher, schneller, reicher kaum mehr einen Wertekanon besitzt. Eine Gesellschafft , die von sich behauptet „christliches Abendland“ zu sein, in dem aber die Kirchen leer sind und an Ostern ein eierlegender Hase gefeiert wird. Wir leben in einem Staat, der im absoluten Wachstumswahn das vergessen hat, was eine Gesellschaft zusammen hält: die Solidarität.
Das kapitalistische Versprechen, dass alle am Wohlstand teilhaben, wenn die Wirtschaft boomt, ist längst widerlegt. Der Kapitalismus produziert neben einigen Gewinnern einfach viel zu viele Verlierer. Letztlich gilt im Kapitalismus nur eine Maxime: Jeder gegen jeden und der Dreisteste gewinnt. Gerade in solchen Zeiten bräuchte es eine politische Führung, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert und nicht an den Forderungen der Wirtschaft.
Zweifel nagen in der Bevölkerung
Und so kommen immer häufiger Zweifel auf: Leben wir tatsächlich in einer Demokratie oder ist es nicht eher eine Art Simulation von Demokratie? Sitzen in den Parlamenten tatsächlich Volksvertreter oder pseudodemokratische Aushängeschild mächtiger Unternehmen und Banken? Welcher Politiker, welche Politikerin kann tatsächlich von sich behaupten, nur ihrem Gewissen verpflichtet zu sein? Und wer ist dieses Volk? Wie viele haben sich von der Politik abgewendet und fühlen sich nicht mehr repräsentiert und werden infolgedessen auch politisch nicht mehr wahrgenommen und vertreten?
Welcher Politiker sollte sich für die Abgehängten interessieren, die sich von der Politik abgewendet haben, wenn diese eh nicht zur Wahl gehen? Und steckt dahinter die Taktik, die Menschen auf legalem Wege zu entmündigen, um es dann mit einem schulterzuckenden „das ist Demokratie“ abzutun? Stimmt es, dass die Demokratie immer dann am besten funktioniert, wenn sie keine ist?
Der Kapitalismus frisst die Demokratie
Der Kapitalismus braucht die Demokratie nicht. Er schätzt sie, gewiss, wegen ihrer Zuverlässigkeit und weil sie die Leute bei (Kauf )-Laune hält. Und weil der Wohlfahrtsstaat dafür sorgt, dass selbst die Ärmsten einer Gesellschaft in der Lage sind zu konsumieren.
Aber der Wohlstand hat schon immer jegliche moralische Skrupel in den Hintergrund rücken lassen. Unser Wohlstand basiert ja nicht erst seit gestern auf Ausbeutung von Natur, Ressourcen und Menschen anderswo.
Und jetzt frisst der Kapitalismus halt auch die Demokratie und mit ihr all die Errungenschaften der Moderne: Sie nennen es Freiheit, meinen aber Macht. Sie nennen es Gerechtigkeit, meinen aber Privilegien. Und sie nennen es Gleichheit, meinen aber die Verteidigung des Status Quo.
Nur noch 58 Prozent der europäischen Jugendlichen halten die Demokratie für die alles in allem beste Staatsform. Die Demokratie hat an Attraktivität verloren. Sie ist die graue Maus unter den Regierungssystemen. Sie handelt von Grundgesetz und Umsatzsteuervoranmeldung. Sie handelt von langweiligen Phrasendreschern in der Politik, von Politikverdrossenheit und Koalitionsverhandlungen. Da ist wenig Glamour, wenig Lametta. Demokratie handelt von Meinungsbildung, bevor man eine Meinung hat. Das ist anstrengend. Die Demokratie ist mühselig, langweilig und für die meisten eine ergraute Selbstverständlichkeit.
Ein bisschen Diktatur geht nicht
Autokraten versprechen da mehr Action. Da ist mehr Lametta. Da geht die Meinungsbildung schnell und Koalitionsverhandlungen sind kurz. Opposition Rübe ab. Widerspruch zwecklos.
Man muss sich nicht langwierig in Themen einarbeiten, denn es gibt ja nur eine Meinung. Das gibt Halt und Orientierung. Diktatur heißt Fahnen, Aufmärsche, Paraden und der unliebsame Nachbar verschwindet einfach über Nacht.
Doch eines sollte uns immer gewiss sein: Ein bisschen Diktatur geht nicht! Wenn sie kommt, dann mit aller Macht und Gewalt. Und deshalb müssen wir der AfD dankbar sein, weil sie uns vor Augen führt, wie wichtig es ist, für diese Demokratie zu kämpfen. Dass wir nicht zulassen dürfen, dass sie zur Fassade verkommt, hinter der sich antidemokratische Kräfte formieren und dass die Demokratie nicht erneut zum Steigbügelhalter des Faschismus werden darf.
Die Stärken der Demokratie
Wir werden erkennen müssen, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist und dass dieses Land nicht geprägt wird von Begriffen wie Nation, Blut, Ehre, Religion und Abgrenzung, sondern dass es Artikel eins des Grundgesetzes ist, der den Kern unseres Zusammenlebens ausmacht: Die Würde des Menschen ist unantastbar! Die Würde des Menschen ist unantastbar und nicht die Würde des Deutschen, des Christen oder des steuerzahlenden Leistungsträgers.
Viele haben die Stärken der Demokratie vergessen. Dass die Stärke der Demokratie ja nicht ist, dass die Mehrheit bestimmt, wo es langgeht, sondern dass sie die Rechte der Minderheiten achtet. Die Würde muss ja auch gar nicht erkämpft werden für die gesellschaftllichen Gewinner, sondern sie muss erkämpft werden für die, die selbst nicht kämpfen können. Und sie muss auch für die erkämpft werden, die einem zuwider sind, die anderer Meinung sind und für die, die einem auf den Sack gehen.
Demokratie muss immer wieder neu erstritten werden
Ja, die Demokratie ist keine Wohlfühloase, in der man sich einmal gemütlich einrichtet, und dann ist für alle Ewigkeit Ruh. Nein, sie muss immer wieder von neuem erstritten werden. Demokratie heißt Diskurs, heißt aushalten von Andersdenkenden, Anderslebenden, heißt Aushalten von Ignoranz, Dummheit und Markus Söder.
Die große Errungenschaft der Aufklärung ist die Überwindung der Grenzen von Rasse, Nationalität, Religion und Ideologie. Geben wir den antidemokratischen Kräften, die alles verachten, was dieses Land ausmacht – Freiheit, Demokratie, Vielfalt, Toleranz – keine Chance! Und lasst uns eines nicht vergessen: Nicht der Markt regelt die Dinge, sondern das Grundgesetz.
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ist Kabarettist und Autor. Im ZDF moderiert er zusammen mit Tobias Mann die Kabarettsendung "Mann, Sieber!"