Meinung

Chance zum Neustart: Vier Lehren aus der Corona-Krise

Die kommenden Monate – wenn nicht Jahre – werden geprägt sein von den Folgen der Corona-Krise. Wenn wir nicht einen nachhaltigen Ausweg finden, droht international und national eine massive Verschärfung der Ungleichheit und der Konflikte. Vier Dinge gilt es besonders zu beachten.
von Hilde Mattheis · 25. Mai 2020
Internationale Beziehungen nur mit Mundschutz: Die Corona-Krise droht Ungleichheit und Konflikte weltweit zu verschärfen.
Internationale Beziehungen nur mit Mundschutz: Die Corona-Krise droht Ungleichheit und Konflikte weltweit zu verschärfen.

Die Auswirkungen der Corona-Pandemie sind extrem. Wenn wir nicht einen nachhaltigen Weg aus dieser Krise finden, droht international und national eine massive Verschärfung der Ungleichheit und der Konflikte. Mit den Worten des ehemaligen UN-Generalssekretärs Ban Ki-moon gesprochen: „Wir sind die erste Generation, die die Armut beenden kann, und die letzte, die den Klimawandel begrenzen kann.“

Die Folgen der Privatisierung des Gesundheitssystems

Der weltweite Shutdown hat bereits nach wenigen Tagen in eine globale Wirtschaftskrise geführt, wie man sie seit der großen Depression nicht mehr kannte. Damit einher gehen ungeahnte Einschränkungen des gesellschaftlichen und sozialen Lebens.

Nicht nur die Wirtschaftskrise, auch der in vielen Ländern ausgebrochene Gesundheitsnotstand offenbaren die soziale Fragmentierung innerhalb der Staaten, aber eben auch zwischen den Staaten. Die Gesundheitssysteme in Spanien, Griechenland und Italien sind nach Jahren der aufgezwungenen Sparprogramme und der Privatisierungen völlig überfordert. In den USA ist es insbesondere das schwarze Prekariat, die in den überfüllten Krankenhäusern stirbt. Aber auch in Deutschland zeigen sich die Folgen der Privatisierung des Gesundheitssystems.

Corona zeigt die Verletzlichkeit der Gesellschaft

Während in Deutschland 150 Milliarden Euro nur für Soforthilfen bereitgestellt werden können, wird der globale Süden um Jahrzehnte seiner Entwicklung zurückgeworfen und erste Staaten müssen den Bankrott erklären. Vom Elend der gestrandeten Geflüchteten in und vor Europa ganz zu schweigen. Diese Pandemie zeigt brutal die Verletzlichkeit der Gesellschaft, aber eben auch das Versagen eines Systems, das dem Wirtschaftswachstum alles untergeordnet hat.

Die nächsten Monate – wenn nicht Jahre – werden geprägt sein von dieser Krise. Viele Entscheidungen der nächsten Zeit werden darüber bestimmen, ob wir etwas gelernt haben und unsere Wirtschaft und Gesellschaft krisenfester aufstellen, also auf neue Beine stellen. Orientierung geben dabei die 17 UN-Nachhaltigkeitsziele, auf die sich die Staaten bereits 2015 verpflichtet haben.

Systemrelevanz neu definieren

Systemrelevant sind nicht die Banken und die Finanzmärkte, sondern die Versorgungsbereiche, die für uns Menschen wichtig sind: Gesundheits- und Pflegeversorgung, Landwirtschaft und Lebensmittelhandel, Energieversorgung und Logistik. In diesen Bereichen brauchen wir nicht mehr Wettbewerb, sondern mehr Staat. Daseinsvorsorge darf nicht den Marktlogiken unterworfen sein, sondern muss den Bedürfnissen der Menschen dienen. Den Beschäftigten in diesen Bereichen gehört nicht nur der Applaus in Krisenzeiten, sondern eine grundlegende Sicherheit durch gute tarifliche Vereinbarungen.

Wir müssen definieren, welche Waren wir den Abhängigkeiten internationaler Lieferketten und einzelner Monopolisten überlassen, und welche Güter wir wieder verstärkt in Europa produzieren. Antibiotika oder Schutzmasken gehören sicher dazu.

Die Krisen zusammendenken

In Deutschland und Europa werden nach den aktuellen Soforthilfen milliardenschwere Konjunkturprogramme aufgelegt. Diese öffentlichen Investitionen sind notwendig und sinnvoll, müssen aber an klare sozial-ökologischen Kriterien gekoppelt werden. Heute getätigte Investitionen wirken Jahrzehnte. Daher ist es entscheidend, die Belebung der Wirtschaft mit der Erreichung der Klimaziele zu verzahnen. Das eröffnet auch Chancen. Denn insbesondere die energieintensive Industrie braucht klare politische Leitplanken, um ihre Produktion und Produkte perspektivisch CO2-neutral zu gestalten. Wenn die öffentliche Hand zudem als Vorreiter und Abnehmer klimafreundlicher Waren und Baustoffe Märkte schafft, ist die schnelle Transformation der Industrie deutlich wahrscheinlicher.

Außerdem kann eine gezielte Re-Regionalisierung in Zukunft ein wichtiger Baustein einer Ökonomie der Nachhaltigkeit sein, um abrupte Störungen der Lieferketten zu reduzieren und die „Resilienz“ des Gesamtsystems zu erhöhen. Gegen alle Vernunft werden derzeit Stimmen laut, die in dieser Situation das genaue Gegenteil fordern: einen klimapolitischen Rollback, das Abschwächen von Regeln für Luftreinhaltung und Natur- und Wasserschutz.

Wenn wir die Folgen der Klimakrise noch auf ein erträgliches Maß reduzieren wollen, dürfen die kommenden Konjunkturhilfen keine Strukturen stabilisieren, die der Klimazielerreichung widersprechen. Das gilt national, aber eben auch europäisch. Der Green Deal der EU muss zu einem Green New Deal oder einem Social Green Deal erweitert werden und konsequent vorangetrieben werden.  

Solidarität – in Europa und der Welt

Weltweit stehen ganze Volkswirtschaften in der Folge der Pandemie vor dem Kollaps. Der Gesundheitsnotstand und die Rezession treffen geschwächte Gesellschaften und drohen sie ins Chaos zu stürzen. Deutschland muss im Rahmen der EU, der G7 und der G20 alles dafür tun, um diesen Ländern zu helfen. Ein erster Schritt ist die umfassende Entschuldung. In der Vergangenheit war dies viel zu oft mit Auflagen und Sparprogrammen verbunden, die diese Länder in jahrzehntelange Abhängigkeiten getrieben haben. Das muss diesmal anders sein. Die Pandemie trifft alle unverschuldet – aber eben auch in völlig unterschiedlicher Intensität.

Die Europäische Union steht schon wieder vor einer existenzbedrohenden Weiche. Ohne umfassende innereuropäische Solidarität werden die Fliehkräfte wieder zunehmen. Deutschland muss jetzt zeigen, was den europäischen Gedanken ausmacht und den Weg freimachen für schnelle und unkonditionierte Direkthilfen über den ESM, um dann mittel- und langfristig über die Einführung von Corona-Bonds für eine Stabilisierung zu sorgen. Nur mit Solidarität und Unterstützung lassen sich Gesellschaften und Demokratien stützen.

Ursachen der Pandemie

Vieles ist noch offen über die Ursprünge dieses Virus. Klar ist aber, dass die Wissenschaft seit Jahren vor genau diesem Szenario gewarnt hat. Der Klimawandel mit seiner Erderhitzung und den Extremwetterereignissen zwingt immer mehr Arten, angestammte Regionen zu verlassen und so die oft filigranen Ökosysteme durcheinander zu wirbeln. Eine auf Export und Ertrag getrimmte globale Nahrungsmittelindustrie drängt die Natur immer weiter zurück und engt den Lebensraum für Wildtiere immer weiter ein. Dieser Planet hat seine Belastungsgrenze längst erreicht. SARS-COV-2 ist nicht der erste Virus, der die Artgrenze überwunden hat und von Wirt zu Wirt springt.

Um eine zunehmende Häufung von Epidemien zu verhindern und unser Überleben auf diesem Planeten zu gewährleisten ist es unumgänglich, all unsere Kraft in die Begrenzung der Klimakrise zu legen. Schon bei einer mittleren Erhitzung um zwei Grad bis zum Ende dieses Jahrhunderts hätten wir ökologische Kipppunkte überschritten, die nicht mehr aufzuhalten sind. Die globale Nahrungsmittelproduktion muss grundlegend neu strukturiert werden. Der ökonomische Expansionskurs gegen die Natur muss gestoppt und Agrarindustrieflächen weltweit renaturiert werden.

Autor*in
Hilde Mattheis
Hilde Mattheis

ist seit 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages und Vorsitzende des Vereins „DL21 – Forum Demokratische Linke“.

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