Bundesliga-Geisterspiele: Ein historisch gruseliges Ereignis
Etwas mehr als ein Jahr ist es her, dass ich Zeuge eines historischen Ereignisses war. Mein Verein, Eintracht Frankfurt, spielte im Halbfinalrückspiel der Europa League donnerstagabends auswärts bei Chelsea London. Ich war mit tausenden Eintracht-Fans nach London gereist und erlebte ein episches Fußballspiel, in dem meine Mannschaft erst im Elfmeterschießen tränenreich ausschied. Die Partie war auch deswegen so episch, weil sich Mannschaft und Zuschauer*innen gegenseitig zu Höchstleistungen antrieben. So zumindest die Empfindung von mir und 2.500 mitgereisten Eintracht-Fans. Nach mehr als 120 Minuten waren wir alle erschöpft, heiser und traurig.
Verstörende Bilder vom Revierderby
Ein Jahr später geht es nach mehr als zwei Monaten Fußball-Pause endlich wieder los. Meine Eintracht spielt samstagabends um 18.30 Uhr gegen die Borussia aus Mönchengladbach. Ein Topspiel, auf das man sich freuen könnte. Endlich wieder Fußball als Ablenkung in Zeiten von Corona. So zumindest das Kalkül der Deutschen Fußball-Liga (DFL) und Pay-TV-Anbieter Sky. Doch der Plan ging nicht auf. Denn das, was am Wochenende in den Stadien geschah, hatte mit Bundesligafußball nur insoweit etwas zu tun, dass 22 Spieler um den Ball stritten und mancherorts sogar Tore erzielte.
Ja, Sky verbuchte so viele Zuschauer*innen wie selten zuvor. Das lag aber in erster Linie daran, dass die Konferenz am Samstagnachmittag anders als sonst auch kostenlos im Free-TV zu sehen war, in zweiter Linie vielleicht auch an der Neugier vieler Fans an diesem ungewöhnlichen und bizarren Ereignis. Auch ich saß am Samstagabend auf dem Sofa und informierte mich im Liveticker über den Spielstand im Duell zwischen der Eintracht und Mönchengladbach. Währenddessen sah ich in der Sportschau die verstörenden Bilder vom „Revierderby“ zwischen Borussia Dortmund und Schalke 04. Ein Spiel, das normalerweise mehr als 80.000 Zuschauer*innen begeistert im Stadion verfolgt hätten.
Jubel vor leeren Rängen
Mit 4:0 gewann die Borussia. Ein Ergebnis, das Potenzial besessen hätte, in die Derby-Geschichte einzugehen. Unter normalen Umständen. Doch in Zeiten von Corona überwog die Absurdität. Die Absurdität, dass die Zuschauer*innen sich als zusätzliche Bezahloption bei Sky „passende Fangesänge“ als Audiospur einblenden lassen konnten. So feuerten die nicht vorhandenen Gäste-Fans ihr Team selbst nach einem 0:3-Rückstand noch mit „Schalke, Schalke“-Rufen an. Die Absurdität, dass selbst in der abendlichen Sportschau-Zusammenfassung statt echter Fangesänge die Rufe der Spieler zu hören waren, die so blechern klangen wie ein Gospelchor bei der missglückten-Generalprobe. Und zuletzt die Absurdität, dass die Dortmunder Spieler ihren Derbysieg nach Schlusspfiff vor der leeren Südtribüne feierten.
Leere Wand statt gelbe Wand hieß es also am Samstagnachmittag. Hätte es noch einen Beweis für die Absurdität von Geisterspielen gebraucht, diese Bilder lieferten ihn. Fußball ohne Fans, ohne Gesänge, Jubel, Reaktionen, Emotionen. Das funktioniert nicht. Hier entlarvt sich eine Branche selbst. Denn die Vereine spielen eben nicht für ihre treuen Anhänger*innen, sondern lediglich für ihren eigenen Selbsterhalt beziehungsweise die nächste Rate des Pay-TV-Senders Sky.
„Wenn das Volk nicht trainieren darf, soll es eben Sky gucken.“
Zugleich zeigen die absurden Bilder, vom ersten Bundesliga-Geisterwochenende, wie abgekoppelt der Profifußball inzwischen ist. Nicht nur von anderen Sportarten wie Eishockey oder Handball, die ihre Spielzeiten längst beendet haben, sondern auch vom Amateursport. Während die Bundesliga-Millionäre nun Wochenende für Wochenende in leeren Stadien kicken dürfen, schaut der Amateurfußball in die Röhre. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn für Kreisligafußballer*innen ist aktuell nicht einmal ein einfaches Trainingsspiel erlaubt. Es scheint, als wolle die DFL Marie-Antoinette adaptieren: „Wenn das Volk nicht trainieren darf, soll es eben Sky gucken.“
Gerne würde ich diesen Kommentar mit einer positiven Botschaft beenden. Doch mit dieser Bundesliga-Saison ist es wie mit einem Pur-Konzert, auf das man die kleine Schwester aus reiner Nächstenliebe begleitet hat: Es hört einfach nicht auf. Noch acht solcher Geisterspieltage sollen folgen. Der Rest der Saison könnte zäh werden, ehe irgendwann im Juli ein paar versprengte Fans mit dem Mindestabstand von 1,50 Meter auf dem Münchner Marienplatz stehen und skandieren werden: „Geistermeister wird nur der FCB.“ Ein historisch gruseliges Ereignis.
„vorwärts“-Redakteur Benedikt Dittrich ist anderer Meinung. Seiner Meinung nach ist die Kritik an den Geisterspielen scheinheilig.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo