Meinung

Brexit: Warum ein schlechter Deal besser wäre als keiner

Auch wenn Boris Johnson kaum Kompromissbereitschaft zeigt, verhandelt die EU beim Brexit bis zum letztmöglichen Moment. Denn selbst ein schlechter Deal wäre besser als gar keiner. Vor allem für die Menschen in Großbritannien.
von Kay Walter · 15. Dezember 2020
Die EU sollte beim Brexit bis zum letztmöglichen Zeitpunkt verhandeln, auch zum Wohle der Menschen in Großbritannien.
Die EU sollte beim Brexit bis zum letztmöglichen Zeitpunkt verhandeln, auch zum Wohle der Menschen in Großbritannien.

Groundhog day: Und wenn die Geschichte unterdessen allen noch so sehr zum Halse heraus hängt,  sie verhandeln immer noch. Müssen sie auch, denn es gibt auch zwei Wochen vor dem endgültigen Ausscheiden der Brit*innen aus der EU noch immer keinen Deal, keinen Vertrag.

Johnson braucht das Feindbild EU

Die Positionen sind weiter grundverschieden. Und das nicht nur in der Sache, sondern auch in der Haltung. Die EU verhandelt weiter bis zum letzten Moment, weil das im Interesse ihrer Bürger*innen ist. Selbst ein schlechter Vertrag wäre besser als keiner und wenn er „nur“ Rechtssicherheit brächte.

Johnson hingegen will keinen Vertrag. Er will nur den Anschein des Kämpfens erzeugen. Aber er und seine konservativ-nationalistischen Tories brauchen zwingend das Feindbild EU, um den Brit*innen einen Schuldigen präsentieren zu können für die harten Zeiten, die auf sie zukommen werden. Warum ist das so?

Brexit ist nicht mehr abzuwenden

Zunächst gilt es, ein paar Dinge festzuhalten, bevor sich Illusionen und Unwahrheiten weiter verbreiten, etwa die, der Brexit sei doch noch abzuwenden. Oder auch die Variante, Brüssel und London trügen gleichermaßen Verantwortung für die Situation. Beide Thesen sind grundfalsch.

So oder so, Großbritannien wird am 1. Januar 2021 definitiv nicht mehr Mitglied der Union sein. Der Austritt ist beschlossene Sache. Die Brit*innen haben die Regierung Boris Johnson genau dafür gewählt. Sie glauben mehrheitlich den Lügen der Murdoch-Presse, sie würden damit ihre „nationale Souveränität“ zurückgewinnen und auf eine glorreiche Zukunft zusteuern. Offen ist lediglich die Frage, ob mit oder ohne Vertrag mit den ehemaligen Partner*innen in der EU.

Großbritannien trifft es heftiger als die EU

Der ehemalige stellvertretende Premier Michael Heseltine hat das kürzlich als „den größten Fehler einer Regierung“ seit 1945 bezeichnet. Heseltine ist Konservativer, Johnson hat seinen Wahlkreis übernommen. Gleichwohl erklärt er in einem Artikel für den Guardian, die Regierung müsse für das sich abzeichnende Desaster verantwortlich gemacht  und auch zur Verantwortung gezogen werden. Heseltine argumentiert rein ökonomisch, im Gegensatz zur Boris Johnson aber mit realen Daten.

Knapp die Hälfte aller britischen Im- und Exporte werden mit dem weltweit größten Binnenmarkt, der EU nämlich abgewickelt. Ohne jeden Zweifel treffen Einbrüche oder Zollhindernisse den kleineren Markt unvergleichbar heftiger als den großen.

Schlechte Karten für Fisch- und Autoindustrie

Beispiel Autoindustrie: Die ist auf der Insel nahezu vollständig im Besitz deutscher und asiatischer Firmen. Nur INEOS plant im Dezember 2021 mit dem Grenadier den Bau eines originär englischen Autos zu beginnen. Die Produktion, das wurde diese Woche verkündet, wird im Smart-Werk von Hambach in Frankreich stattfinden. Die Motoren liefert BMW. Die asiatischen Firmen, aber auch Ford haben Fabriken in Großbritannien, um von hier aus Zugang zum europäischen Markt zu haben. Gibt es keinen privilegierten Zugang mehr, werden die Standorte geschlossen.

Beispiel Fischerei: Als Großbritannien am 1. Januar 1973 der EU beitrat, hat die große Mehrheit der britischen Fischer umgehend ihre Lizenzen an die französische Fischindustrie verkauft. Kein Wunder, landet doch das absolute Gros ihrer Fänge sowieso in Boulogne -sur-Mer! Wer soll glauben, das würde nun anders? Fisch und Muscheln, die nicht länger auf dem europäischen Markt verkauft werden, weil sie durch die von den Brit*innen selbst erzwungenen Zollschranken zu teuer geworden sind, die werden dann sicher nicht einfach anderswo verkauft. Nein, sie werden in britischen Lagerhallen vergammeln – oder zu Fischmehl verarbeitet.

Aufsicht geht von Brüssel nach Genf

Letztes Beispiel: Der Wegfall sämtlicher Handelsverträge und -regeln bedeutet mitnichten, dass Großbritannien nun mit jedem Land einzeln neue Verträge (möglichst zum eigenen Nutzen) aushandeln könnte oder auch nur dürfte. Derartigen Unfug hat man die Brit*innen zwar glauben gemacht – nicht zuletzt ein gewisser Donald Trump – stimmt aber nicht, ganz und gar nicht. Als Mitglied der WTO muss Großbritannien zwingend jedem WTO-Staat die nämlichen Rechte einräumen, die sie einem anderen Mitglied gegenüber vertraglich vereinbart hat. Praktisch bedeutet das NULL Zugewinn an der versprochenen Souveränität. Die Aufsicht über die Regeln wird lediglich von Brüssel nach Genf verlagert! Na toll.

Sicher ist auch: Die EU mit ihren rund 450 Millionen Bürger*innen hat in der WTO erheblich mehr Einfluss als z.B. Großbritannien mit seinen 66 Millionen. Ein Grund im Übrigen, warum in Schottland und Wales über Referenden zum Austritt aus dem UK nachgedacht wird.

Ökonomische Wahnsinn

Ökonomisch ist der Austritt aus der EU der schiere Wahnsinn. Das sagen unterdessen sämtliche britischen Wirtschaftsverbände, und die sind progressiver Umtriebe nicht eben besonders verdächtig. Die Zeche bezahlen werden nicht Alexander Boris de Pfeffel Johnson und seine Freunde aus der englischen Oberschicht. Die werden im Gegenteil auch am Brexit noch verdienen, wie auch schon an der durch Covid 19 verursachten Krise. Bezahlen werden die arbeitenden Menschen, viele mit dem Verlust ihrer Arbeitsplätze.

Das ist der zentrale Grund, warum die EU bis zum letztmöglichen Moment verhandeln soll und muss: Verantwortung für die Menschen auch im Vereinigten Königreich, weil Johnson und seine Clique die entgegen ihres Amtseids offensichtlich nicht wahrnehmen wollen. Deshalb wäre selbst ein schlechter Deal besser, als gar keiner.

Und denen, die nun mahnen, es bliebe den Parlamenten nicht genügend Zeit, ein eventuelles Vertragswerk von über 1000 Seiten vor dessen Ratifizierung noch zu prüfen sei gesagt: Wer es wider jede Erwartung doch noch schaffen sollte, am 30. Dezember 2020 ein Abkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich auszuhandeln, der kann da auch ziemlich einfach reinschreiben, dass es bis zur endgültigen Unterzeichnung für x Monate provisorisch gilt.

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