Brandanschlag von Solingen: Nazis und Rechtsextreme waren nie weg
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Am 29. Mai jährt sich zum 30. Mal der rechtsextreme Brandanschlag auf die Solinger Familie Genç. Fünf junge Menschen, darunter drei Kinder, starben. 17 Menschen erlitten zum Teil schwerste Verletzungen mit andauernden Folgen. Ich war 1993 als junge Reporterin vor Ort, habe über das Unfassbare geschrieben und versucht, es fassbar zu machen. Damals war wie heute Pfingsten.
Unionspolitiker*innen bedienen sich rechtsextremer Rhetorik
Erinnerungen werden bei mir wach: Das grenzenlose Entsetzen beim Anblick des ausgebrannten Zweifamilienhauses und des völlig zerstörten Dachstuhls in der Unteren Wernerstraße. Mitten in Solingen. Die Verhaftung und Verurteilung der ebenfalls jungen Täter zwischen 16 und 23 Jahren aus der Solinger Neonazi-Szene. Zwei von ihnen kamen aus gut bürgerlichen, ja zum Teil politisch sehr engagierten Elternhäusern.
Aus der Mitte der Stadtgesellschaft. Auch das machte uns fassungslos. Wir konnten uns das nicht erklären. Rechtsextremismus hatte doch was mit Randgruppen zu tun – dachten wir damals. Heute – weiteren Anschlägen und den NSU-Morden zum Trotz – ist rechtsextremes Gedankengut aber längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Denn die AfD sitzt in vielen Parlamenten, und das, obwohl die Partei sich immer stärker radikalisiert und vom Bundesamt für Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall beobachtet wird.
Dennoch bedienen sich immer wieder Unionsvertreter*innen aus populistischem Machtkalkül der Rhetorik aus der Giftküche der Rechtsextremen. Bestes Beispiel dafür ist der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz, der im vergangenen September den vor dem Krieg in der Ukraine geflohenen Menschen „Sozialtourismus“ unterstellte. So verschiebt sich der Diskurs immer weiter nach rechts. Neonazis und Rechtsextreme können sich ins Fäustchen lachen, ihre Rechnung scheint aufzugehen.
Keine CDU-Wahlempfehlung für SPD-Kandidaten in Oder-Spree
Und in immer bedeutenderen politischen Fragen hält sich die Union nicht mehr an den Konsens der Demokraten, mit Rechtsextremen keine gemeinsame Sache zu machen. Jüngstes Beispiel ist die Landratswahl im Oder-Spree-Kreis. Dort hat die brandenburgische CDU für die Stichwahl zwischen einem Sozialdemokraten und einem unbekannten AfD-Mann keine Wahlempfehlung für den SPD-Mann abgegeben.
Allen – auch schriftlichen – Vereinbarungen als Koalitionspartner der Kenia-Regierung in Brandenburg zum Trotz hat die Union geschwiegen. Öffentliche Kritik aus den eigenen Bundesreihen hat es dazu nicht gegeben. Auch an der Bundesspitze schwieg die Union. So hält sie sich in Bund und Land das Türchen der Machtoption mit den Rechtextremen offen.
Für den Preis, dass sie mindestens billigend in Kauf genommen hätte, dass die AfD den ersten rechtsextremen Landrat in Deutschland hätte stellen können. Deswegen müssen sich auch CDU-Chef Merz und sein Generalsekretär Mario Czaja fragen lassen, wo sie stehen und ob sie aus der Geschichte nichts gelernt haben. Das gilt für die kommunale Ebene bis hin zu Europa, wo der EVP-Vorsitzende Manfred Weber (CSU) zunehmend und immer öfter aus reinem Machtkalkül die Nähe zu Rechtsextremen und Neofaschisten wie der italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni sucht.
CDU-Chef Friedrich Merz lässt es einfach geschehen
CDU-Chef Merz lässt das alles laufen. Warum wohl? Die CDU setzt damit den Tabubruch der Wahl von Thomas Kemmerich fort. Der FDP-Mann hatte sich mit den Stimmen von AfD, CDU und FDP im Februar 2020 zum thüringischen Ministerpräsidenten wählen lassen – in Deutschland die erste Kooperation von bürgerlichen, demokratischen Parteien mit einer rechtsextremen Partei seit der Weimarer Republik!
Wohin dies in Weimar führte, ist bekannt. Als die Proteste zu groß wurden, trat Kemmerich zwar schnell zurück. Aber nun will er wieder Spitzenkandidat seiner Partei bei der Landtagswahl 2024 werden – und soll es offenbar auch. All das geht mir durch den Kopf, wenn ich heute an das Attentat von Solingen denke.
Ich hätte damals nicht geglaubt, dass 30 Jahre später Rechtsextreme in den Bundestag und in unsere Landes- und Kommunalparlamente gewählt werden. Ich war überzeugt davon, dass unsere Demokratie stark genug ist, eine kleine Minderheit von Neonazis zu bewältigen, dass dieses Kapitel unserer Geschichte sich absehbar wieder schließen würde. Ich habe mich getäuscht.
ist Chefredakteurin des "vorwärts" und der DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik sowie Geschäftsführerin des Berliner vorwärts-Verlags.