Meinung

Betriebliche Mitbestimmung: Wir wollen mehr Wirtschaftsdemokratie wagen

Wir stecken mitten in der Transformation unserer Industriegesellschaft. Die Rechte von Arbeitnehmer*innen dürfen dabei nicht auf der Strecke bleiben. Die Digitalisierung der Arbeitswelt ist nur dann ein echter Fortschritt, wenn wir in Sachen Arbeitnehmer*innenschutz keinen Rückschritt machen.
von Cansel Kiziltepe · 9. Dezember 2020
Fahrer eines Lieferdienstes in Berlin: Die Arbeitnehmer*innenvertretung braucht daher in allen Branchen eine starke Stimme, auch in der Plattformökonomie.
Fahrer eines Lieferdienstes in Berlin: Die Arbeitnehmer*innenvertretung braucht daher in allen Branchen eine starke Stimme, auch in der Plattformökonomie.

Vor etwa 50 Jahren durften Frauen in der Schweiz noch nicht wählen, es betrat erstmals ein Mensch den Mond und in den USA fiel der Startschuss für das Internet mit gerade einmal vier Nutzer*innen. Ebenfalls vor etwa 50 Jahren wurde das Betriebsverfassungsgesetz das letzte Mal neu gefasst. Auch die letzte Reform liegt bereits fast 20 Jahre zurück.

Seitdem hat sich viel getan. Ob Digitalisierung, Globalisierung oder Strukturwandel: Wir stehen vor großen Herausforderungen. Mitten in der Transformation unserer Industriegesellschaft werden von vielen Seiten Zweifel laut, ob die anstehenden Umbrüche erfolgreich gemeistert werden können. Deshalb geht es jetzt darum, dass wir als SPD die richtigen Weichenstellungen treffen, damit wir dem Wandel nicht hinterherlaufen, sondern selbstbewusst und gestalterisch vorneweg gehen. Das gelingt uns nur, wenn wir die Mitbestimmung in allen Betrieben und Unternehmen stärken und mehr Wirtschaftsdemokratie wagen.

Erfolgreiches Wirtschaften funktioniert nur mit den Beschäftigten

Die Corona-Krise hat die Stärken und Schwächen unseres Wirtschaftssystems noch einmal für alle sichtbar gemacht. Innerhalb kürzester Zeit wurde für viele das Home-Office zum Alltag und die Digitalisierung erhielt einen noch nie dagewesenen Schub. Gleichzeitig standen die Bänder in vielen Betrieben still und unzählige Unternehmen sehen bis heute einer unsicheren Zukunft entgegen. Die Krise hat den Unternehmen gnadenlos den Spiegel vorgehalten: Wer auf kurzfristige, hohe Profite gesetzt hat, zahlt dafür jetzt einen hohen Preis. Und noch schlimmer: Dieser Preis ist meist gerade für die Beschäftigten besonders hoch, wenn im Schatten der Krise ein massiver Stellenabbau vorangetrieben wird.

Langfristig erfolgreiches Wirtschaften funktioniert jedoch nicht ohne die Beschäftigten. Es braucht echte Beteiligung – auf Augenhöhe und mit ernsthafter Verhandlungsbereitschaft. Denn während die Corona-Pandemie nicht wenige Schwächen unseres Wirtschaftssystems offengelegt hat, hat sie auch gezeigt, welche Instrumente sich bewährt haben. Und das Ergebnis ist eindeutig: Mit Mitbestimmung kommt Deutschland besser durch die Krise.

Mitbestimmungsvermeidung ist weit verbreitet

Doch obwohl Mitbestimmung nachweislich mehr Innovation und Produktivität sichert, gibt es zunehmend die Tendenz der Mitbestimmungserosion, die uns als SPD schon seit Jahren Sorge bereitet. Welche Folgen vehemente Mitbestimmungsvermeidung hat, zeigte sich erst kürzlich im dreisten Bilanzskandal der Wirecard AG. Das Unternehmen hatte bis zuletzt weder einen Betriebsrat noch Arbeitnehmer*innenvertreter im Aufsichtsrat. Eine wichtige Kontrollinstanz, die der Unternehmensführung auf die Finger hätte schauen können, wurde damit bewusst und gezielt ausgeschaltet.

Doch nicht nur bei Wirecard, auch in zahlreichen anderen Unternehmen, sei es im Start-Up-Business oder in traditionsreichen Betrieben, ist Mitbestimmungsvermeidung weit verbreitet. Die Beschäftigten müssen sich ihr Recht auf eine Interessenvertretung am Arbeitsplatz oftmals mit viel Ausdauer und Hartnäckigkeit erkämpfen. Wir müssen sie darin unterstützen und dafür sorgen, dass sie mehr gehört werden.

Gegen eine prekäre Parallelarbeitswelt im Internet

Die Arbeitnehmer*innenvertretung braucht daher in allen Branchen eine starke Stimme, auch in der Plattformökonomie. Ob Lieferando, Uber oder Helpling: Immer mehr Plattformbetreiber*innen drängen auf den Markt. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2018 gaben fast fünf Prozent der Deutschen an, als Crowdworker*in auf Plattformen aktiv zu sein. Ungefähr 70 Prozent davon erzielten mit ihrer Tätigkeit auf diesen Plattformen ein Erwerbseinkommen. 34 Prozent der Crowdworker*innen arbeiteten sogar mehr als 30 Stunden in der Woche über Vermittlungsseiten.

Eins ist klar: Die Zahl der Menschen, die über Click- und Crowdworking ihren Lebensunterhalt verdienen, wird steigen. Damit im World Wide Web keine prekäre Parallelarbeitswelt entsteht, in der der Arbeitnehmer*innenschutz auf der Strecke bleibt, braucht es klare Regeln und digitale Mitwirkungsmöglichkeiten. Denn die Digitalisierung der Arbeitswelt ist nur dann ein echter Fortschritt, wenn wir in Sachen Arbeitnehmer*innenschutz keinen Rückschritt machen.

Transformation und Gute Arbeit schließen sich nicht gegenseitig aus. Im Gegenteil: Sie sind Bausteine einer guten Wirtschaftspolitik für die Zukunft – eine unserer Königsaufgaben. Wir wollen die Mitbestimmung stärken und zukunftsfest machen, damit die Regeln für die Arbeitswelt von morgen eine klare sozialdemokratische Handschrift tragen.

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Autor*in
Cansel Kiziltepe
Cansel Kiziltepe

ist Senatorin für Arbeit und Soziales in Berlin sowie Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Arbeit (AfA) der SPD.

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