Andrea Nahles: Warum der Sozialstaat eine Grundsanierung braucht
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Deutschland ist ein reiches Land. Die Wirtschaft wächst, wir haben Rekordbeschäftigung und wir kommen ohne neue Schulden aus. Der Sozialstaat ist gut ausgebaut, vor allem dank der SPD. Die andere Wahrheit lautet: Obwohl wir jedes Jahr etwa eine Billion Euro für soziale Sicherung ausgeben, spüren viele Menschen den Sozialstaat nicht an ihrer Seite. Obwohl wir 200 Milliarden Euro jährlich für Familienleistungen aufwenden, sind zwei Millionen Kinder auf Grundsicherung angewiesen. Obwohl wir über 350 Milliarden Euro für die Alterssicherung aufwenden, reicht oft die Rente nicht. Und darüber hinaus empfinden viele Menschen den Sozialstaat nicht als Unterstützung, sondern als Hindernislauf.
Das alte System passt nicht mehr
Unverständliche Bescheide, unklare Zuständigkeiten und fehlende Ansprechpartner verstellen für viele den Weg, ihre Rechte auch wahrzunehmen. Zudem gibt es erhebliche Veränderungen in der Arbeitswelt, das alte System passt an vielen Stellen nicht mehr. Wir müssen den Sozialstaat wieder auf die Höhe der Zeit bringen, eine Grundsanierung ist fällig. Dies geht nur im Rahmen einer großen und zusammenhängenden Sozialstaatsreform.
Ein wesentlicher Teil davon ist die Reform des Hartz-IV-Systems. Wir müssen Hartz IV hinter uns lassen. Wir müssen eine neue Grundsicherung schaffen. Folgende Gedanken sollten uns bei der Neukonzeption der Grundsicherung leiten:
• Im Unterschied zu Grundeinkommen-Konzepten wollen wir nicht mehr, sondern weniger Leistungsempfänger – aber mehr soziale Sicherheit. Deswegen gilt es, Arbeitslosigkeit zu verhindern, bevor sie entsteht.
• Wir wollen ein Recht auf Arbeit und kein Recht auf bezahltes Nichtstun. Klar ist: Arbeitnehmer auch mit geringen Einkommen müssen netto mehr in der Tasche haben als die Grundsicherung.
• Eine Reform der Familienleistung muss Kinder vor Armut schützen. Wir brauchen eine eigenständige Kindergrundsicherung.
• Die Arbeitslosenversicherung muss wieder zum wichtigsten Sicherungs- und Unterstützungssystem für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden. Weiterbildung muss schon dann ansetzen, wenn Grundsicherung noch lange kein Thema ist. Mit dem Arbeitslosengeld Q liegt ein schnell umsetzbarer Vorschlag der SPD dazu vor.
Wie eine neue Grundsicherung aussehen kann
Wir sollten also die Rechtsansprüche und das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit im Sozialstaat stärken und die Grundsicherung so wieder auf ihren ursprünglichen Kern zurückführen: als soziales Netz, wenn es gar nicht anders geht. Dieses sollte man aber möglichst schnell wieder verlassen können. Wichtig ist ein tiefgreifender Mentalitätswechsel in der Grundsicherung. Bei der Gestaltung gehen wir von den Menschen aus, die Unterstützung brauchen und die dabei mitwirken wollen. Erspartes muss großzügiger geschützt werden, die angestammte Wohnung oder das Wohneigentum sollen bleiben.
Natürlich braucht eine Sozialleistung, die an letzter Stelle im System steht, immer auch Mitwirkungsregeln. Dabei gilt: Wer sich im Rahmen seiner Möglichkeiten beteiligt, muss besser dastehen als jemand, der sich nicht beteiligt. Das kann man zum Beispiel auch durch Bonus-Regeln schaffen. Leistungssperren jedenfalls müssen immer das letzte Mittel sein. Und das Existenzminimum eines Menschen darf niemals infrage gestellt werden.
Die neue Grundsicherung muss Teilhabe für alle Bürgerinnen und Bürger ermöglichen. Der Sozialstaat muss einfacher und verlässlicher werden. Ansprüche müssen klar und auskömmlich sein. Rechte müssen schnell und unbürokratisch in Anspruch genommen werden können. Eine solche Sozialpolitik schafft Perspektiven und stärkt damit den sozialen Zusammenhalt in unserem Land.