Meinung

8. Mai: Wir verdanken den USA viel

Am 8. Mai 1945 endete nicht nur der Zweite Weltkrieg in Europa. Es begann auch eine enge Partnerschaft zwischen Deutschland und den USA. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten sollten die Deutschen die Beziehung zu den Vereinigten Staaten mehr wertschätzen.
von · 8. Mai 2020
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Der 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges ist ein Anlass, über die Niederlage und Befreiung Deutschlands und seine Rückkehr in die Gemeinschaft demokratischer Staaten nachzudenken. Zudem ist er ein Meilenstein in den gegenwärtigen deutsch-amerikanischen Beziehungen. Er bietet die Gelegenheit zu erkennen, welche Möglichkeiten die Vereinigten Staaten einem besiegten und in Ungnade gefallenen Deutschland boten, welche politischen und historischen Schritte getan wurden und welche Chancen nach wie vor in der Partnerschaft liegen.

Die Schaffung des heutigen deutschen Staates ist grundlegend an die amerikanische Politik gebunden: von der Entnazifizierung (so unvollkommen sie auch war) bis zur Unterstützung der Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten. Deutschland wurde in die Gemeinschaft der führenden Staaten aufgenommen und ist zum Partner im europäischen Projekt geworden. Aus diesem Grund und trotz unserer aktuellen und vergangenen Meinungsverschiedenheiten, sollten die Deutschen die Beziehung zu den Vereinigten Staaten von Amerika wertschätzen.

Die verbliebenen Demokraten wollten einen Neuanfang

Der 8. Mai ist aus deutscher Sicht ein Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus. In der Zeit nach dem Freitod Hitlers am 30. April sehnten sich viele Deutsche nach einem Ende des Schreckens der Diktatur und des Krieges, aber es blieb eine Zeit ungeheurer Gewalt und gefährlicher Unsicherheit – eine Zeit der Angst. Die letzte nationalsozialistische und kurzlebige Flensburger Regierung unter Karl Dönitz glaubte noch, die Geschicke Deutschlands weiter leiten zu können, und zwar ohne eine Rückkehr zur Demokratie. Die Briten setzten dieser letzten Nazi-Regierung am 23. Mai 1945 schließlich ein Ende.

Die verbliebenen und zurückkehrenden deutschen Demokraten – unter ihnen viele Sozialdemokrat*innen – wollten einen Neuanfang. Die, die überlebten, hatten viel Zeit im Exil, in Gefängnissen oder in den Konzentrationslagern der Nazis, um über die Herausforderungen und Möglichkeiten eines neuen demokratischen Deutschlands nachzudenken. Es war ihnen klar, dass die Trümmer des Krieges und die brutalen Realitäten von 1945 den Weg zur Demokratie zu einem sehr schwierigen Pfad machen würden. Zudem war die deutsche Zivilgesellschaft nach zwöfl Jahren Diktatur zerstört.

Amerika gab den Deutschen eine Chance

Doch diese Demokraten verzweifelten in diesem historischen Moment nicht. Vor allem die Sozialdemokraten setzten sich dafür ein, ein neues Deutschland auf den Fundamenten der parlamentarischen Demokratie aufzubauen und einen Staat zu schaffen, der verantwortungsvoll und in Frieden mit seinen Nachbarn leben würde. Was die deutschen Demokraten nun dringend brauchten, war die Gelegenheit, Deutschland mit einer demokratischen und pluralistischen Vision aufzubauen. Sie kam in Gestalt der westlichen Alliierten unter amerikanischer Führung.

Obwohl der katastrophale und von Deutschen verursachte Krieg in ganz Europa und Nordafrika verheerende Verwüstungen angerichtet, Völkermord begangen, den deutschen Staat zerstört und Millionen von Zivilisten und Kämpfern das Leben gekostet hatte, gab Amerika den Deutschen eine weitere Chance, einen demokratischen Staat zu schaffen, ihn zu verwirklichen und in ihm zu leben.

Grundlage für Frieden nach dem Zweiten Weltkrieg

Während in den westlichen Besatzungszonen und in den Westsektoren des geteilten Berlins eine Renaissance der deutschen Demokratie der Nachkriegszeit begann, sollten die Menschen in der Deutschen Demokratischen Republik trotz ihres anfänglichen Ausschlusses aus der Bundesrepublik Deutschland in diese Geschichte einbezogen werden. Die amerikanische Aufforderung an die deutsche Zivilgesellschaft, ein demokratisches, an einer westlichen Ordnung orientiertes und eingebundenes Deutschland zu schaffen, war ein zentraler Bestandteil der Entstehung der Bundesrepublik und der Schaffung einer liberalen internationalen Nachkriegsordnung.

Dieses umfassendere internationale System von Bündnissen und Organisationen, in dem die Bundesrepublik Mitglied und Mitwirkender sein konnte, bildete die Grundlage für den Frieden und die (west)deutsche Außenpolitik in der Zeit des Kalten Krieges. Als sich dann Ende der 1980er Jahre das historische Blatt wendete, unterstützten die Vereinigten Staaten von Amerika einmal mehr enthusiastisch das in Ostmitteleuropa und Ostdeutschland begonnene Projekt vom Fall des Eisernen Vorhangs und zur Vereinigung Europas. Als in Berlin die Mauer fiel, feierten sie mit uns, dass nun „zusammenwächst, was zusammen gehört“, wie Willy Brandt es formulierte.

Die Alliierten hätten auch anders entscheiden können

Diese historische Entwicklung scheint im Nachhinein eine ausgemachte Sache gewesen zu sein, aber nichts davon war garantiert. Amerika, Großbritannien, Frankreich und vor allem die ehemalige Sowjetunion hätten nicht vorhersehbare politische Entscheidungen mit Bezug auf Deutschland treffen können, und zwar mit der jeweils gleichen Begründung: dass diese im nationalen und sicherheitspolitischen Interesse ihres Landes lägen. Diese Entscheidungen hätten Deutschland zutiefst bestrafen können, womit sich ein ganz anderes Nachkriegseuropa entwickelt hätte und eine Europäischen Union, wie wir sie heute kennen, nicht möglich gewesen wäre.

Dies ist nicht der Ort, um eine hypothetische oder widersprüchliche Historie zu diskutieren. Es ist vielmehr der Ort, um die konkreten historischen Maßnahmen und Entscheidungen anzuerkennen, die unter US-amerikanischer Führung vor, während und nach dem 8. Mai 1945 getroffen wurden, um Deutschland in die Gemeinschaft der demokratischen Staaten zu integrieren. Gerne erinnern sich die Deutschen an die humanitären Anstrengungen der Berliner Luftbrücke mit seinen „Rosinenbombern“ und an die erhebenden Reden der Präsidenten John F. Kennedy und Ronald Reagan im geteilten Berlin.

Trotz ihrer politischen Differenzen forderten beide ein geeintes, demokratisches Deutschland und setzten sich engagiert für die Verwirklichung dieses Ziels ein. Es ist noch gar nicht so lange her, dass ein junger US-Senator namens Barack Obama, nur wenige Monate vor seiner Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten, in einer Rede in Berlin diese Meilensteine der deutsch-amerikanischen Beziehungen als Beispiele dafür nannte, was möglich sei, wenn ehemalige Feinde aufeinander zugehen und zu außergewöhnlichen Partnern, sogar Freunden werden können.

Wir dürfen die USA nicht aufgeben

Liest man Obamas Rede von 2008 noch einmal aus der Perspektive des Jahres 2020, fällt die Diskrepanz zwischen dem Optimismus seiner inspirierenden und bewegenden Rhetorik und der schwierigeren Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen während der beiden Amtszeiten seiner Präsidentschaft auf. Sicher wurden einige Hoffnungen zerschlagen, und einige Erwartungen wurden enttäuscht. Aber der Vorher-Nachher-Vergleich von Erwartung und Realität unter der Obama-Administration verblasst im Vergleich zu den politischen und emotionalen Folgen der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten, die uns vor Augen führen, was wir niemals für möglich hielten und was plötzlich einen Handstreich entfernt zu sein scheint.

Es ist leicht, von der gegenwärtigen amerikanischen Führung zutiefst enttäuscht zu sein. Aber, wie auch immer unsere Meinungsverschiedenheiten aussehen mögen, ist es ebenso bemerkenswert, dass die amerikanische Demokratie – wie jede Demokratie – etwas ist, das, gleich Ebbe und Flut, beständig im Wandel ist. Sie fällt und steigt fließend, nicht statisch. Sie verändert sich von Präsident zu Präsident, und manchmal auch während einer Legislaturperiode. Wir dürfen die Vereinigten Staaten nicht aufgeben und die Zukunft der deutsch-amerikanischen Beziehungen mit ihren gemeinsamen Herausforderungen und ihrem Potenzial für große Chancen und positive Veränderungen nicht aus den Augen verlieren.

Die transatlantische Partnerschaft muss gestärkt werden

Denn die Zukunft Deutschlands in Europa ist mehr denn je mit Amerika verflochten. Wir können nicht ins Jahr 2008 zurückkehren, auch nicht in die 1990er Jahre. Deutschland, Europa und die Vereinigten Staaten müssen sich den wahren globalen Herausforderungen einer Größenordnung stellen, wie es sie vielleicht seit dem Krieg, über dessen Ende wir heute nachdenken, nicht mehr gegeben hat. Wir müssen in der Lage sein, auf beiden Seiten des Atlantiks flexibel zu bleiben, um die Gefahren des Klimawandels und globaler Pandemien erfolgreich abzuwenden und die Aufrechterhaltung einer auf Regeln beruhenden internationalen Ordnung zu gewährleisten. Die transatlantische Partnerschaft muss gestärkt und sollte nicht den Skeptikern oder Pessimisten überlassen werden. In nur sechs Monaten könnte sehr wohl ein weiterer Führungswechsel mit einem neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten anstehen.

Wir müssen bereit sein, erneut fruchtbar zusammenzuarbeiten, wenn dieser Wandel kommt. Wir dürfen nicht zulassen, dass eine Freundschaft kaputt gemacht wird, die wahrlich durch dick und dünn gegangen ist. Und wir dürfen nicht vergessen, dass diese Freundschaft aus der amerikanischen Großzügigkeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden ist, zu einem Zeitpunkt, als ein Mangel an Güte vielleicht gerechtfertigt gewesen wäre.

Eine neue Partnerschaft

Das 21. Jahrhundert erfordert einen neuen Blick auf die Lehren der deutsch-amerikanischen Freundschaft und eine kühne Vision von wiederbelebten transatlantischen Beziehungen. Doch wie genau können wir diese wichtige Partnerschaft neu beleben? Nicht dadurch, dass wir uns auf die Wunden der Vergangenheit konzentrieren oder uns von der aktuellen America-First-Politik mit ihrer Aufgabe von internationalen Sicherheitsverpflichtungen und dem vorübergehenden Verzicht auf die globale Führungsrolle blenden lassen

Eine neue Partnerschaft wird aus der Erneuerung unserer bestehenden Verpflichtungen und der Aufrechterhaltung des transatlantischen Dialogs erwachsen, die sich nicht historischen, sondern künftigen Herausforderungen stellt. Der 8. Mai, der 75. Jahrestag der Befreiung Deutschlands, ist ein Tag des Nachdenkens. Ziehen wir die richtigen Lehren aus gelebter Demokratie, erkämpfter Freiheit und gewachsenem Multilateralismus, dann können wir den Wert dieses historischen Datums zukünftig Tag für Tag und Jahr für Jahr schätzen.

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