Meinung

30 Jahre Wiedervereinigung: Gebt das Bild der „Inneren Einheit“ auf!

Oft wird von der „Inneren Einheit“ Deutschlands gesprochen. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sollten wir damit aufhören. Denn der Begriff hat längst einen ehrlicheren Nachfolger gefunden.
von Christina Morina · 2. Oktober 2020
Installation zum Tag der Deutschen Einheit in Potsdam: Die Rede von der „Inneren Einheit“ hat ihren Bezugsrahmen verloren.
Installation zum Tag der Deutschen Einheit in Potsdam: Die Rede von der „Inneren Einheit“ hat ihren Bezugsrahmen verloren.

Die Rede von der „Inneren Einheit“ ist seit 1989/90 ein fester Teil des öffentlichen Diskurses über den Zustand der Berliner Republik. Sie kreiste – als scheinbar konkretes, letztlich jedoch völlig vages politisches Ideal – einerseits um die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Ost- und Westdeutschen; andererseits ging es dabei stets auch um die Frage nach der Angleichung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Ost und West.

Nach der ersten Mauerfall-Euphorie und dem raschen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik wurde der sogenannte Aufbau Ost lange als „wichtigste innenpolitische Aufgabe“ betrachtet, wie es Helmut Kohl in einer Rede zum fünften Jahrestag der Vereinigung formuliert hat. Für den schwierigen Aufbruch in eine gesamtdeutsche Wirklichkeit war eine nach vorn weisende Vorstellung von einer absehbaren „Vollendung“ der Einheit bis weit über die rotgrünen Jahre hinaus unabdingbar. Die Rede von der „Inneren Einheit“ war so gewissermaßen wie eine gute Geschichte konstruiert: Sie hatte einen aufregenden Anfang, einen verschlungenen Mittelteil und ein glückliches Ende.

Die „Innere Einheit“ im Kunst- und Kulturgeschehen

Wie stark dieser offiziöse Diskurs die gesellschaftlichen Verhältnisse prägte, ist gar nicht leicht zu bestimmen. Sicher, über eine Vielzahl von bildungs-, kultur- und wissenschaftspolitischen Förderprogrammen wurde der innerdeutsche Austausch nachhaltig angeregt – von Schüleraustauschprogrammen über Gedenkstättenprojekte bis hin zu millionenschweren Forschungsverbünden. Doch betrachtet man das freie, vielstimmige und zunehmend auch transnational vernetzte Kunst- und Kulturgeschehen der letzten Jahrzehnte, so könnte man gar behaupten, dass sich die Ideen von einer „Inneren Einheit“ gerade dort materialisierte, wo man sie am wenigsten beschwor: Die großen, preisgekrönten Filme und Bücher, die seit den 90er Jahren erschienen sind, waren sehr oft genuin ostwestliche Vorhaben mit starken, aber niemals nur ostdeutschen Themen – man denke nur an Das Leben der Anderen, Barbara, Kruso oder Unterleuten. Sie verschafften der DDR-Geschichte eine universale, weit über (nationale) Nischen hinausweisende Resonanz, die gerade von um „Anerkennung“ ringenden Ostdeutschen zu wenig wahrgenommen wird.

Auf dem profaneren, aber nicht minder existentiellen Feld des Materiellen, der sozialen und politischen Kultur, wurden viele der Gleichwertigkeitsziele der „Inneren Einheit“ inzwischen erreicht. Wohlstand und Lebensqualität sind im Osten inzwischen, trotz bleibender Unterschiede etwa in der Privatvermögensverteilung, vielerorts hoch. Zugleich ist der darin formulierte Anspruch weitgehend gescheitert – eben, weil er funktional, wenn nicht gar ideologisch angelegt war. Wer sich eine ihrem Wesen nach nicht zu vollendende Aufgabe stellt, darf sich nicht wundern, wenn es nicht gelingt, diese zu vollenden. Diese These bedarf der Erläuterung und damit verbunden eines Blickwechsels auf die jüngste Zeitgeschichte – die letzten fünf bis zehn Jahre.

Die „Innere Einheit“ hat ihren Bezugsrahmen verloren

Mit der Wende zum 21. Jahrhundert wandelten sich in Deutschland die gesellschaftlichen und damit politischen Verhältnisse (und vice-versa). Beispielsweise reformierte Rot-Grün das Staatsbürgerschaftsrecht und erkannte damit endlich die Macht des Faktischen an: dass die Bundesrepublik seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland war. Doch dieser Wandel wurde zunehmend von globalen Entwicklungen – nicht nur Krisen (Finanzmarkt, Migration, Pandemie), sondern auch Möglichkeiten (Transfer, Arbeit, Weltbürgerbewegungen) – beeinflusst.

Dazu gehört nicht zuletzt eine absolut neuartige, ungleich fragmentarischere, postbürgerliche Öffentlichkeitsstruktur, die im Grunde zwangsläufig am Fundament der westlich-liberal-bürgerlichen Demokratie rüttelt. In einer Welt voller Vernetzungen, Widersprüche und hyperkomplexer Menschheitsaufgaben hat somit die – sehr deutsche – Rede von der „Inneren Einheit“ gewissermaßen ihren Bezugsrahmen verloren; oder vielmehr hat sich dieser Rahmen derart krass verschoben, dass er als solcher, als innerdeutscher, kaum mehr erkennbar und daher auch nicht mehr vermittelbar ist. Die Rede ist zur Phrase verkommen.

„Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ statt „Innere Einheit“

Inzwischen spricht diese Erkenntnis auch aus jeder Zeile der Bundespräsidentenreden zu diesem Thema. Erneut kommt man an der Anerkennung der Macht des Faktischen nicht länger vorbei: Wir leben in einer unübersichtlichen, polarisierten Welt, der man mit echten Fragen und ernsten, also bescheidenen und unabgeschlossenen Antworten begegnen muss. Und deshalb ist es Zeit, auf die Rede von der „Inneren Einheit“ zu verzichten; sie hat längst einen würdigen, weil ehrlicheren Nachfolger gefunden: die Rede vom „gesellschaftlichen Zusammenhalt“.

Und wir sollten aus den Erfahrungen mit der abgesungenen „Inneren Einheit“ lernen, das heißt vor allem lernen, die richtigen Fragen zu stellen und möglichst viele Perspektiven – nicht nur jene der Etablierten und „Einheimischen“ – in die jetzt anstehenden gesellschaftlichen Selbstverständigungsversuche zu integrieren. Diese spezifische Frage-Expertise und Perspektivenoffenheit hilft nicht zuletzt dabei, die eigene Position, die eines Berliners, einer Ostdeutschen, eines Bundesdeutschen, einer Europäerin usw. zu relativieren und damit für die Interessen und Bedürfnisse Anderer zu öffnen. Dreißig Jahre nach der Vereinigung könnte eine bundesdeutsche Ordnung, die auf einer ausgewogeneren Mischung aus Selbst- und Weltbezogenheit beruht, doch noch von einem guten Ende dieser Geschichte künden.

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Autor*in
Christina Morina

ist Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld und Mitglied des Geschichtsforums der SPD.

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