Der Mann ist weg, bald wohl auch die Wohnung und ein qualvoll absurder Job jagt den nächsten: Mit 40 Jahren fühlt sich Camille am Ende. Ihr Alltag ist zum Davonlaufen. Genau diese Chance bietet sich der erfolglosen Schauspielerin bei einer unverhofften Zeitreise. Doch lässt sich die Zukunft aufhalten?
„Camille“, die neueste Arbeit von Regisseurin und Hauptdarstellerin Noémie Lvovsky, zeigt uns das Elend des Scheiterns in schaurig-süßen Bildern: Immer wieder muss Camille die Augen aufreißen und ein paar Laute röcheln, während ihr das Blut aus der frisch aufgeschlitzten Kehle schießt: Kurzauftritte in Horrorfilmen haben wenig mit dem zu tun, was sich Camille einst erträumte. Auch sonst hat sie wenig zu lachen: Der Mann, von dem sie sich gerade trennt, will sie aus der Wohnung zu werfen, um mit dem Erlös aus dem Verkauf ein neues Leben mit einer Jüngeren zu beginnen. Und die Tochter weigert sich, am Silvesterabend mit ihrer Mutter feiern zu gehen. Wer kann es Camille verübeln, sich mal (wieder) so richtig abzuschießen, um der tristen Gegenwart irgendwo im feuchtkalten Frankreich zu entfliehen?
Das soll ihr gelingen, als sie auf einer Party entkräftet zu Boden geht. Doch das Erwachen aus der Ohnmacht hält einige Überraschungen bereit. An ihrem Bett stehen keine alten Freundinnen, sondern grimmige Eltern, die eigentlich seit Jahren tot sind. Doch in diesem Moment sind sie quicklebendig. Durch wundersame Umstände hat Camille eine Zeitreise gemacht. Sie ist, wenngleich wundersamerweise äußerlich unverändert, nicht 40, sondern 16. Und offenbar mit einer kräftigen Alkoholvergiftung ins Krankenhaus gekommen.
Während Camille noch immer nicht ganz glauben kann, wieder im Jahr 1985 zu sein, richtet sie sich in ihrem neuen alten Leben ein. Nach dem ersten Schock kommen ihr all die Dinge in den Sinn, an die sie sich als Erwachsene voller Reue erinnert hat: Zum Beispiel der Dauerzoff mit der Mutter. Die hat bis zu ihrem frühen und plötzlichen Tod niemals erfahren, dass Camille bereits mit 16 Jahren schwanger war. Das soll sich nun ändern.
Eine neue Zukunft
Überhaupt will sie die unfreiwillige Verjüngungskur dafür nutzen, die Weichen für die Zukunft anders zu stellen. Es dauert nicht lange, bis ihr Eric, ihr späterer Ehemann, in der Schule über den Weg läuft. Auch diese Beziehung will sie nun in ganz andere Bahnen lenken. Doch kann eine Liebe unter einem guten Stern stehen, wenn man deren Ende ständig vor Augen hat? Da kann es nicht schaden, mit dem Wissen der reifen Frau, die alle für ein junges Ding halten, sich mit weiteren Männern einzulassen. Bloß nicht wieder Eric mit Haut und Haaren verfallen! Ein schöner Plan. Ansonsten genießt es Camille, mit einer gehörigen Portion Sarkasmus, in Schlabber-T-Shirts und Karo-Röckchen mit den Freundinnen durch die Stadt zu ziehen und sich über erste amouröse Gehversuche auszutauschen. Zugleich begegnet sie den Menschen mit fast schon mütterlichem Wohlwollen und lebenshungriger Neugier. Lvovsky macht in allen Nuancen eine hinreißende Figur. Und doch wird Camille alles zu viel: Nicht nur, weil sich gewisse Dinge im Leben eben doch nicht aufhalten lassen. So plötzlich die Zeitreise begonnen hatte, ist sie auch wieder vorbei. War es Traum oder Wirklichkeit? Wie auch immer: Ganz ohne Folgen für die wiedererlangte Gegenwart bleibt der Trip nicht.
Keine Frage: Diese übersinnliche Geschichte bietet den Stoff für den ganz großen Kitsch oder Nonsens. Nicht auszudenken, was einer wie Steven Spielberg daraus gemacht hätte. „Camille“ ist nichts dergleichen. Eher ließe sich von einer Kreuzung aus Tragikomödie und Fabel sprechen, der, auch wenn es unter diesen Umständen skurril klingen mag, an maximalem Realismus gelegen ist. Mag es auch von unfreiwilliger Komik sein, wenn etwa Camille und Eric in beiden Altersphasen vom jeweils gleichen Schauspieler verkörpert werden. Doch derlei Äußerlichkeiten sind für den Erzählfaden nebensächlich.
Das Gefühl der 80er-Jahre
Lvovsky und die drei Co-Autoren legen den Fokus ganz auf die psychologische Entwicklung der Figuren. Ihnen ging es nicht darum, zu zeigen, wie die Welt der 80er-Jahre aussah, sondern wie sie sich als Heranwachsender angefühlt hat. Hinzu kommt die Frage, ob es etwas in unserer Persönlichkeit gibt, die uns in jedem Alter erhalten bleibt: Macht die Zeit aus uns andere Menschen oder gibt es einen unbeugsamen Kern? Können wir, so gesehen, in verschiedenen Altersstufen zugleich leben? Camilles Widerspenstigkeit, so scheint es gleich am Anfang, wenn sie ihren Ex und einen Wohnungsinteressenten mit Umzugskisten bewirft, scheint unverwüstlich zu sein. Doch wer austeilt, möchte sich manchmal auch anlehnen. So nutzt Camille ihre „zweite Chance“, um diese Extreme neu auszubalancieren.
Mag die Dramaturgie manchmal auch etwas holpern: Trotz seiner in jeder Szene auf Camilles Inneres gerichteten Perspektive verliert der Film, der im vergangenen Jahr 13-mal für Frankreichs nationalen Filmpreis, den César, nominiert war, niemals seinen leichten Erzählton. Mit einem entspannten Lächeln lassen wir uns von Camille an die Hand nehmen und lernen fürs Leben.
Info:
Camille – verliebt nochmal! (Camille Redouble, Frankreich 2012), ein Film von Noémie Lvovsky, mit Noémie Lvovsky, Samir Guesmi, Yolande Moreau, Mathieu Amalric u.a., 115 Minuten.
Ab sofort im Kino