Kultur

Zukunft statt Hollywood

von Franz Viohl · 26. März 2014

Der Vater ein Stasi-Spitzel, der Sohn ein kritischer Künstler – Uwe Kolbes Roman „Die Lüge“ handelt davon, wie ein Staat ins Intimste vordringt. Ein wirklich neuer literarischer Blick auf die DDR gelingt ihm nicht.

Dieses Buch beginnt mit einem Geständnis. Die Geschichte sei schon mehrmals erzählt worden, erklärt der junge Hadubrand „Harry“ Einzweck, der Ich-Erzähler des Romans, gleich im ersten Satz. Aber die Wiederholung lohne sich trotzdem. Denn die Geschichte, und das ist vielleicht der beste Satz dieses Buches, „stand eines Tages vor der Tür in Gestalt meines Vaters“. Und der interessiert sich nicht nur für seinen Sohn, sondern für dessen „Milieu“, junge Musiker in Berlin. Hinrich Einzweck, der Vater, ist Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi.

Vieles ist zunächst bekannt. Da sind einmal die kritischen Intellektuellen vom Prenzlauer Berg („Dingszene“), die sich zum Debattieren in der Kirche treffen, auf der anderen Seite der überzeugte Kommunist, eingewandert in den sowjetischen Sektor. Hier Harry, der junge Komponist, dort Hinrich, der Staatsdiener. Zwischen beiden liegt, natürlich, eine Generation, ebenso wie zwischen den historischen Ereignissen, der „Aufbauphase“ der DDR und ihrem Verfall in den späten Achtzigern.

Von Frauen und Alkohol

Sohn Harry entwirft experimentelle Musik, will aber auf die Vorteile der sozialistischen Kulturförderung nicht verzichten. Er arrangiert sich also mit der Zensur, wird zum Nachwuchstalent, schlägt dann aber doch das lukrative Angebot aus, für die Stasi Informationen über seine Kollegen zu sammeln. Stattdessen gibt er sich einem Künstlerleben hin, das vor allem aus Affären und Alkoholgenuss besteht. Seine junge Frau mit gemeinsamem Kind lässt er sitzen.

Auch Vater Hinrich, offiziell Leiter eines Jugendzentrums, denkt vor allem an Frauen und Drinks. Nur klingt das bei Kolbe nach Plattitüde: „Ihre Festigkeit erregte ihn, etwas, dem er heut Abend nachgehen würde, dem jungen, sauberen Fleisch, das ihm freundlich zugetan war.“ Dabei gelingen Kolbe viele sprachliche Bilder, etwa über Zeit, einer „Abfolge uferlose Momente“. Dass Kolbe eigentlich Lyriker ist, zeigt sich leider an einer holprigen Schreibweise. In seiner Hast droht der Erzähler, den Leser zu verlieren.

Bequemer Freigeist und ungerechter Gerechter

Blickt „Die Lüge“ noch einmal anders auf die DDR? Sowohl Harry als auch Hinrich führen ein Doppelleben: der eine ist eigentlich ein Freigeist, macht es sich dafür aber zu bequem; der andere ist eigentlich ein Kämpfer für das Gerechte, kämpft aber einen ungerechten Kampf. Von diesem Konflikt, der ja das Spannungsverhältnis einer ganzen Gesellschaft ausmachte, lebt dieses Buch. Und doch wollen Politisches und Erzählerisches hier nicht zusammen passen – Katerstimmung, Herrenwitze und Nabelschauen stehen der Geschichte mehr im Weg als sie zu bereichern. 

Wenn sich Harry und Hinrich begegnen, wissen sie alles vom anderen. Der Vater überwacht seinen Sohn, rettet ihm auch mal die Haut vor den Behörden. Der Sohn revanchiert sich, indem er auf Hinrichs Hochzeiten geht oder Arbeiterlieder spielt.

Vater-Sohn-Geschichte in unfreiem Land

Am Ende, Tausende sind bereits über Ungarn ausgereist, bleibt Hinrich verbittert zurück: „Die wollen doch alle Happy End à la Hollywood statt Zukunft zu gestalten.“ Er kann nicht verstehen, warum die Leute ans Mittelmeer wollen und nicht ans Schwarze Meer. Schließlich verlässt ihn seine Freundin, nennt ihn „Spießer“ –  genau der Spießer, den Hinrich immer bekämpft hat. Als der Vater stirbt, heiratet sein Sohn Harry dessen letzte Frau, die zu diesem Zeitpunkt schwanger ist. Er weiß nicht, ob von seinem Vater oder von ihm.

Eine Milieustudie in den Dimensionen von Uwe Tellkamps „Turm“ kann und will dieses Buch nicht sein. Und doch vergibt Uwe Kolbe die Chance, eine berührende Vater-Sohn-Geschichte zu entwerfen, wie sie auf bestimmte Art nur in einem unfreien Land geschehen kann: mit Streit, Verwerfungen, Brüchen. Kater inklusive.

Uwe Kolbe: "Die Lüge", Roman, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2014, 384 Seiten, 21,99 Euro, ISBN 978-3-10-040221-9

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