Bilder entstehen, Erinnerungen werden wach, an die Düfte, die ihn als kleiner Junge zu Witwe Krauses Seifenladen oder Schuster Schmiedepfennig im Prenzlauer Berg zogen oder an die
sowjetischen Panzer am 17. Juni 1953 in Berlin. Manfred Lenz' Vater war im Krieg gefallen, die Mutter betrieb eine Eckkneipe, wo sich ein buntes Völkchen tummelte. Aus dessen Stammtischdebatten
machte Manni sich seine ersten Reime auf die Welt.
Die Haft- und Verhörmethoden des DDR-Staatsapparates sind inzwischen gängiges Thema in der Literatur. Aber Kordon erzählt in seinem Buch "Krokodil im Nacken" Neues. Er zeigt nicht nur die
Grausamkeit im Gefängnis (die aus wesentlich mehr besteht, als dem Delinquenten jegliche Lektüre zu untersagen: "Wann wir Hafterleichterung gewähren und wann nicht, bestimmen ganz allein wir", so
seine Wärter zu Lenz auf dessen Bitte um eine Zeitung), sondern versucht in die Gedankenwelt der Vernehmer und Wächter einzudringen. So entsteht auch hier ein Bild fern der vielen Klischees. Wen
wundert's, denn Manfred Lenz ist Klaus Kordons alter ego. Kordon beschreibt, was er selbst erlebte und dachte, während ihn die Stasi festhielt.
Erstaunlich frei bewegt sich der Autor in verschiedenen Zeitebenen. Die Freiheit des Geistes ist das einzig freie, das Lenz noch bleibt. Und Kordon lässt es zu, dass sein Protagonist sich
darin austobt und sich seiner Erlebnisse detailliert erinnert. Trotz seines gewaltigen Umfangs von fast 800 Seiten wird das Buch nie langweilig, denn zu Detailverliebtheit neigt Kordon nicht. Die
Zeitsprünge erhöhen die Spannung.
Lenz erzählt seine Berliner Geschichte: von der schlesischen Großmutter in der Kaiserzeit bis zum Protagonisten selbst als "Freund der Jugend" in der DDR (so wurden die über 25-Jährigen
genannt, die FDJ-Mitglied waren). Lenz\' Geschichte handelt vom Prenzlauer Berg, in dem er lebte und vom Kinderheim, in welchem er landete, nachdem die Mutter schon 1956 gestorben war, von
jugendlichen Westbesuchen in Kreuzberg und von seiner Arbeit im "VEB Kraftwerk Oberspree". Und schließlich beschreibt Lenz, wie er in den "Grotewohl-Express" verfrachtet wurde (in der DDR wurden
Häftlinge, darunter tausende politische, vor allen per Bahn von der U-Haft in die Gefängnisse transportiert; deshalb rollten Spezialwaggons, angekoppelt an Reisezüge, auf ständiger Rundfahrt durchs
Land: im Volksmund "Grotewohl-Express"), der ihn schließlich in die Einzelzelle in den Stasi-Knast brachte.
Es sind die Menschen und die Milieus, die den Reichtum des Romans ausmachen. Und auch das freilich nicht gänzlich unvorhersehbare Happyend, jedenfalls eine Art Happyend. Lenz, freigelassen,
darf ins Ausland reisen, nach Indonesien. Er hätte zufrieden sein können mit seinem Leben, vielleicht sogar glücklich. Doch nach dem Prager Frühling 1968 sitzt ihm seine gegen das Regime gerichtete
innere Überzeugung gleichsam wie ein Krokodil im Nacken. 1973 reist er deshalb in die Bundesrepublik aus. Nach Frankfurt am Main darf ihn zunächst nur Hannah begleiten. Erst ein Jahr später können
die Kinder folgen. Lenz/Kordon entwickelt sich zum erfolgreichen Autor.
Kordons Geschichte liest sich wie ein Geschichtsbuch: Wer sich zum Beispiel nicht mehr genau erinnert (oder nie wusste), wie der politische Irrsinn einst in und um Berlin tanzte, bei Kordon
erfährt er nebenbei auch das.
Holger Küppers
Klaus Kordon: "Krokodil im Nacken, Deutscher Taschenbuch Verlag, Neuauflage 2005, 795 Seiten, 10 Euro, ISBN 3-423-13404-6
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