Kultur

Wodka und Askese

von ohne Autor · 11. April 2014

Kann der Mensch zu sich selbst finden, wenn das Leben voller Widersprüche und Grenzerfahrungen ist? Der britisch-polnische Regisseur Pawel Pawlikowski geht dieser Frage nach, indem er zwei Frauen im Polen der frühen 60er-Jahre auf eine Reise in die jüngere Vergangenheit schickt.

Wie schon in  „My Summer of Love“ (2004) dreht sich „Ida“ ganz um die Verästelungen zwischen zwei weiblichen Hauptfiguren, die unterschiedlicher nicht sein können. Kurz bevor sie ihr Gelübde ablegt, wird die katholische Novizin Anna von ihrer Äbtissin zu ihrer Tante geschickt, um so ihre einzige Verwandte kennenzulernen. Mit einer Mischung aus Spott und Zärtlichkeit empfängt Wanda sie in ihrer eleganten Großstadtwohnung, die noch aus ihrer Zeit als gnadenlose Staatsanwältin im stalinistischen Nachkriegspolen stammen dürfte. An Wandas sorgfältig lackierten Fingern klebt Blut. Mittlerweile schlägt sie sich als Friedensrichterin und Prostituierte durch. Wanda eröffnet Anna, dass sie Ida heißt und, wie sie selbst, Jüdin ist. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie in einem Kloster versteckt. Ihre Eltern wurden ermordet. Wanda überlebte im Untergrund.

Das Zusammentreffen mit Ida bestärkt sie darin, das Geheimnis zu lüften, das bis heute wie ein Mühlstein auf ihr lastet: Wie und warum Idas Eltern, denen polnische Bauern Unterschlupf gewährt hatten, starben. Und das ist längst nicht das einzige schmerzliche Kapitel in ihrer Familiengeschichte. Während der Nachforschungen in der ostpolnischen Provinz taucht Ida in eine Vergangenheit ein, die sie wie eine Bürde auf sich nimmt. Mit ihrem kriminalistischen Spürsinn hat die gleichsam energische wie fatalistisch-humorige Wanda schließlich den Mann am Schlafittchen, der ihre innig geliebte Schwester und deren Mann auf dem Gewissen hat.

Mit den Augen eines Kindes


Doch damit ist ihre Abrechnung mit der Zeit des Holocausts, die auch ein Hinterfragen der eigenen Rolle bedeutet, noch lange nicht am Ende: Nicht nur die Biografie,sondern auch die Energie dieser von Agata Kulesza so kraftvoll wie zerbrechlich verkörperten Frau hat viele Gesichter. Nicht weniger faszinierend ist die ungelernte Debütantin Agata Trzebuchowska als Ida: Allein, wenn man diese wie ein neugieriges, aber sehr ernstes Kind anmutende junge Frau unterm Kopftuch dabei beobachtet, wie sie die Welt mit neuen Augen zu sehen beginnt.

Wie Ida und Wanda wurden, was sie sind, erzählt Pawlikowksi in gleichsam märchenhaften wie düsteren Schwarz-Weiß-Bildern: Als wäre der Trip mit dem knatternden Wartburg über einsame Landstraßen zwischen kahlen winterlichen Feldern eine einzige Meditation. Darin finden sich auch etliche lichte Momente mit reichlich Situationskomik. Zum Beispiel, als die Frauen einen jungen Musiker mit in die nächste Stadt nehmen und Ida die ungewohnten Auswüchse eines Jazz-Konzerts im Hotel-Ballsaal kennenlernt. Jene Nacht wird ihr die Brücke in ein neues Leben weisen. Wanda spürt die Erleichterung, sich endlich der Vergangenheit gestellt zu haben. Dennoch wird ihr Dasein immer mehr zu einer Sackgasse. Ebenso wie Ida trägt sie schwer daran, nicht vergessen zu können. Ihre Alkoholsucht tut ein Übriges.

Strenge Form


Für diese Erzählung aus einem Land, das sich zwischen sozialistischem Aufbau, katholischer Selbstbehauptung, latentem Antisemitismus und Swinging Sixties selbst zu finden oder neu zu erfinden versucht, wählte Pawlikowski eine formale Strenge, die konsequent durchgehalten wird und doch Zwischentöne zulässt. Anfangs sieht und hört man eine Masse in dunklen Gewändern Gebetsgesänge murmeln, kurz danach klappern im Refektorium die Suppenlöffel im Takt. Die Eindrücke aus Annas/Idas Kloster sind karg und rau, aber eben auch sehr präzise inszeniert und abgefilmt. Die Wucht dieser und weiterer gemäldeartiger Szenen im nahezu quadratischen 4:3-Format überwältigt. Auch, weil die Kamera fast die ganze Zeit lang unbewegt bleibt. Immer wieder fallen einzelne Figuren sprichwörtlich aus dem Rahmen. Erst zum Ende hin kommt Bewegung in die Perspektive.

Die ästhetische Kraft dieses Films, der klassische Stilmittel der Polnischen Filmschule weiterentwickelt und den Pawlikowski mit keiner bestimmten Botschaft verknüpft wissen will, setzt Maßstäbe. In Frankreich sahen „Ida“ bis dato bereits eine halbe Million Menschen – für Produktionen dieser Stoßrichtung keine Selbstverständlichkeit. Auch die Jurys der Filmfestspiele in London und Toronto zeigten sich begeistert. Für Pawlikowski ist der Film auch eine Reise in seine Vergangenheit: 1957 in Warschau geboren, reiste er als Teenager in den Westen aus. Somit ist „Ida“ auch der Versuch, sich darüber klar zu werden, was ihm Polen einst war. Dieses intensive Drama, das  die eigene, kindliche Unschuld mit historischer Schuld verknüpft, wird man so schnell nicht mehr los.

Info: Ida (Polen 2013), ein Film von Pawel Pawlikowski, mit Agata Kulesza, Agata Trzebuchowska, Dawid Ogrodnik, Joanna Kulig u. a., 80 Minuten. Ab sofort im Kino


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