Die Konjunktur des Begriffs „Krise“ befeuert die Debatte über Alternativen zu überkommenen Traditionen. Wer obendrein nach Wahrheiten jenseits von alltäglichen Schablonen sucht, den lädt „Siddhartha“ zu einem berauschenden Lernerlebnis ein.
Zum 50. Todestag von Hermann Hesse – der gleichnamige Roman erschien vor 90 Jahren – kommt die filmische Adaption erneut in die Kinos. Die traumwandlerischen Bilder beamen einen zurück in die Hochphase der Indien-Euphorie Anfang der 70er-Jahre: Entrückte Zauselbärte saugen im flimmernden Sonnenuntergang an gigantischen Pfeifen und murmeln sich ins Nirvana. Die allgegenwärtige Sithar und leiernde Gesänge sorgen für einen hypnotischen Groove.
Conrad Rooks' Verfilmung des spirituellsten aller Hesseschen Entwicklungsromane ist unübersehbar ein Kind seiner Zeit. Gedreht wurde unter anderem in der Pilgerstadt Rishikesh. Zuvor hatten sich Pop-Ikonen wie die Beatles und die Beach Boys, angeblich inspiriert durch Hesses „indische Dichtung“, dem Strom der Sinnsucher im Nordwesten des Subkontinents angeschlossen. Dennoch bietet „Siddhartha“ weitaus mehr als psychedelische Retro-Wohligkeit.
Eher lässt sich von einem atmosphärisch dichten Rahmen für die Erzählung von der Verwandlung eines Suchenden zum Erleuchteten sprechen. Und die hat, wie auch die literarische Vorlage, bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren: Nichts ist menschlicher und damit zeitloser als das Streben nach dem Sinn des Lebens. Das lässt sich auch in wirtschaftlichen Zahlen messen: Im Jahr 2011 wurde der Umsatz der Esoterik-Branche allein in Deutschland auf 25 Milliarden Euro geschätzt.
Wo geht’s zur Erleuchtung?
„Siddhartha“ zeigt indes, dass der Weg zur Erleuchtung, mag die Wahl der Mittel auch noch so verheißungsvoll anmuten, keinesfalls ein Selbstläufer ist. „Immer bin ich voll von Fragen gewesen. Und nie habe ich irgendwo eine Antwort gefunden!“ So verlässt der junge Adlige das Elternhaus, um seinen Wissensdurst zu stillen und die innere Harmonie zu finden. Die Unternehmung wächst sich zu einer Lebensaufgabe aus. Zunächst genügt Siddhartha die asketische Meditation der wandernden Sandhus. Doch ihn dürstet es nach aktiver Lebensgestaltung. So trifft er auf die betörende Liebesdienerin Kamala (Simi Garewal). Um deren Gunst zu erlangen, bedarf es eines gewissen Wohlstands. Siddhartha begibt sich unter die Händler. Die Sinnesfreuden mit Kamala sind jedoch nur das Zwischenspiel für eine weitere Entwicklungsstufe: Siddhartha schließt sich jenem ärmlichen Fährmann an, der ihm Jahre zuvor begegnet war.
Der lehrt ihn, in den stetigen Wandel alles Irdischen zu vertrauen und seine Mitte in sich selbst zu entdecken – wer mag, erkennt darin eine Art Kapitalismuskritik. Alles fließt, doch nichts geht verloren: Versinnbildlicht durch das Leben mit und an dem mächtigen Ganges, der fast in jeder Szene zu sehen ist. Siddhartha schickt sich an, den Platz des Alten einzunehmen. Doch dann treten Kamala und der gemeinsame Sohn, von dem er nicht wusste, wieder in sein Leben.
Ähnlich wie Siddhartha vollzieht auch der Zuschauer den Weg zur Erkenntnis über ein rauschartiges Erleben. Erlangt der jugendliche Brahmane in der Meditation, aber auch in der Leidenschaft für Kamala die Selbstbefreiung, so offenbaren sich dem Zuschauer die tieferen Weisheiten über die wahren Dinge im Leben durch einen Trip aus Bildern und Musik. Siddharthas geistige Entwicklung bleibt hinter all dem stets präsent. Das macht diese Literaturverfilmung so großartig.
Gleichzeitig gibt der Film darüber Auskunft, was es hieß, vor vierzig Jahren in einem Land zu drehen, wo heutzutage die weltweit größte Filmindustrie zuhause ist. Bei aller Subtilität, mit der Rooks weitgehend klischeefrei seine Sicht auf Indien einfängt, schimmern doch universelle Elemente der damaligen Filmästhetik hindurch.
Jenseits des Kamasutra
Nicht nur wegen seiner Frisur erinnert Hauptdarsteller Shashi Kapoor eher an den jungen Al Pacino als an ein historisch verbürgtes Vorbild aus der indischen Realität vor gut 2600 Jahren, wo die Geschichte spielt. Wenn sich Siddhartha zwischen tiefgründigen Gesprächen über die Fähigkeit zu lieben oder die Erlangung inneren Reichtums mit Kamala vereinigt, spielt der US-Regisseur bisweilen mit schattenrissartigen Einstellungen, die sich zwar an altindischen Bildnissen, wie sie etwa das Kamasutra überliefert, orientieren, in ihrem Gesamteindruck allerdings Werbeclips oder amerikanische B-Movies jener Jahre ins Gedächtnis rufen.
Nicht nur wegen dieser Details ist „Siddhartha“ ästhetisch voll auf der Höhe seiner Zeit. Gerade das unterstreicht die Langlebigkeit des inhaltlichen Kerns. Zumal die freizügige Darstellung körperlicher Freuden am Set einer Revolution gleichkam: Für die indische Aktrice Simi Garewal sollen es die ersten Nacktszenen ihrer Karriere gewesen sein. Waren harmlose Küsse in heimischen Produktionen seinerzeit undenkbar, sind sie heutzutage zumindest sparsam vertreten – aus Rücksicht auf religiöse Befindlichkeiten, wie es heißt. Spiritualität und eine Unbefangenheit gegenüber moralischen Schranken müssen sich hingegen keinesfalls ausschließen – auch das zeigt „Siddhartha“ in bestechender Weise.
Info: Siddhartha (USA 1972), Buch und Regie: Conrad Rooks, mit Shashi Kapoor, Simi Garewal, Romesh Sharma u.a., 89 Minuten. Kinostart: 9. August