Kultur

„Wir sind die Letzten. Fragt uns aus. Wir sind zuständig.“

von Dagmar Günther · 19. August 2008

"Wir sind die Letzten. Fragt uns aus. Wir sind zuständig", so lauten Anfang und Schluss des vielleicht bekanntesten Gedichts von Hans Sahl aus den 7oer Jahren. Vielleicht haben wir dies seiner Meinung nach nicht gründlich genug getan. Schließlich hat er sich trotz mancher Interviews, die er in den 80erJahren gegeben hat, doch noch, widerstrebend, daran gemacht, seine Erinnerungen aufzuzeichnen. Und wenn sie auch im Titel des ersten Bandes "Memoiren eines Moralisten" (1983) so hießen - Memoiren sollten es keine werden: " Ich bin kein General im Ruhestand, der seinen verlorenen Schlachten eine eiserne Träne nachweint, keine alternde Schauspielerin, die aus Mangel an Beschäftigung sich einer Zeit erinnert, in der die dramatischen Auftritte vorwiegend im Schlafzimmer stattfanden". Nicht Selbstschmückung mit prominenten Namen wollte er also betreiben, sondern die Vergessenen aus dem Abgrund der Vergangenheit wieder in die Erinnerung hervorholen.

Merkwürdige Anekdoten über entschwundene Berühmtheiten

Wie so viele musste auch Hans Sahl, der Essayist und Feuilletonist der Weimarer Republik, der Drehbuch und Romanschreiber, der Filmkritiker der Frühphase des internationalen Films und der Theaterkritiker einer der fruchtbarsten Epochen des deutschen Theaters, aus Deutschland fliehen, weil er eigentlich Hans Salomon hieß und Jude war. Und so behandeln denn diese Lebenserinnerungen auch seine Lebensetappen, beginnend mit der Weimarer Zeit in Berlin bis zur "Machtergreifung", über das Exil in Prag, in Zürich, in Paris und im französischen Internierungslager für, feindliche Ausländer', zum Schluss in Marseille, wo er Varian Fry dabei unterstützte, so viele Juden wie möglich nach Amerika zu retten. Es folgt das Exil in den USA, das weit über den Krieg hinaus anhielt. Der späten Rückkehr nach Deutschland 1989 sind nur wenige Seiten gewidmet.

Merkwürdige Anekdoten, längst dem Gedächtnis entschwundener Berühmtheiten finden sich in diesem Buch. Zum Bespiel die, wie Sahl von der exzentrischen Tänzerin Valeska Gert in ihrem Hotelzimmer eingesperrt wurde, um deren Biographie zu schreiben, und wie er dann auch noch den postillon d'amour zwischen ihr und Sergej Eisenstein zu spielen hatte. Das Prolet-Vorbild Brecht wird entzaubert, trug er doch Arbeiterjacken, die für ihn maßgeschneidert wurden. Sahl schildert die verzweifelten Exzesse Erich Maria Remarques in teuren Nachtclubs und die surreale Begegnung, die er mit dem in der Dunkelheit der Dachkammer eines Pariser Hotels in der Rue Jacob hausenden Dreyfus hatte.

Tauchgang in eine versunkene Welt

Manchmal erinnert das Buch an Ernst Blochs 'Spuren' oder Medaillons von Benjamin oder Kracauer, die in feuilletonistischer Zuspitzung das Wesen ihrer Gegenwart auf den Punkt bringen oder ins Bild setzen konnten. Sahls Notizen muten wie ein Tauchgang in eine Welt an, die es nicht mehr gibt: Auf dem Meeresgrund liegen Trümmer der Vergangenheit, historische Ereignisse und Gestalten. Die berühmten Namen gleichen in diesem Korallenriff der Geschichte bunten Fischen: Werfel, Grosz, Tucholsky, Furtwängler, Ringelnatz, Wolfenstein, Döblin, Seghers, Frank, Münzenberg, Toller, Mann (etliche). Hinzu kommen weniger bekannte, über die man gerne mehr gelesen hätte. Das Personenregister enthält an die tausend Namen. Die häufigsten Nennungen verzeichnet Hitler, und das ist symptomatisch für die Bedeutung, die jene 12 Jahre für das gesamte Leben dieser Generation besaßen.

Einigen Glücklichen gelang die Flucht aus dem brennenden Europa in die USA. Dahin versuchten sie, ihre Kultur auf dem Rücken mit hinauszuretten wie Äneas seinen Vater Anchises. Sahl arbeitete in den USA als Korrespondent für deutschsprachige Zeitungen und als Übersetzer aktueller englischsprachiger Literatur, wie der von Thornton Wilder, Tennessee Williams und Arthur Miller. Als er in den 50er Jahren nach Deutschland zurückkehrte, wollte dieses Land ihn nicht. Es ließ ihn sich 'zuhause' fremder fühlen als im amerikanischen Exil, in das er daraufhin ein zweites Mal floh. Erst 1989, mit 87 Jahren, übersiedelte er nach Tübingen, das noch so aussah, wie manche der Kleinstädte, die er aus der Zeit vor dem Krieg kannte, und starb dort vier Jahre später.

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung nahm Hans Sahl 1962 auf, 1982 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen und 1993 der Lessing-Preis des Freistaates Sachsen, in dessen Hauptstadt er geboren wurde. Der 1995 gestiftete Hans-Sahl-Preis ehrt Schriftsteller, die sich mit ihrem Gesamtwerk für die Freiheit des Wortes einsetzen.

Bruchstückhaft, jedoch authentisch

Leider hat Sahl seine Erinnerungen spät geschrieben - zu spät beinahe! In seinen 80ern fehlte vielleicht dann schon die Kraft, das Ganze gestalterisch zusammenzufügen. Der Text ist daher oft zersplittert, sprunghaft. Wenn auch vorwiegend chronologisch geschrieben, handelt es sich nicht um eine Autobiographie Es sind eben "nur" Erinnerungen, Memoiren, anekdotische Memorabilien. Bruchstückhaft enden sie häufig gerade dann, wenn man gern mehr erfahren hätte. Immerhin verleiht dieses Holzschnittartige dem Erzählten den dokumentarischen Charakter des Glaubwürdigen und Wahrhaftigen, Nichtgeschönten.

Friedhelm Lövenich

Hans Sahl: Memoiren eines Moralisten (1983) / Das Exil im Exil (1990), Neuherausgabe 2008 in einem Band,Luchterhand Literaturverlag, München, 512 Seiten, 21, 95 Euro, ISBN 978-3-630-87278-0

Autor*in
Dagmar Günther

war bis Juni 2022 Chefin vom Dienst des vorwärts.

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