Kultur

„Wir können nur ein Leben führen“

von ohne Autor · 27. September 2012

Haben Sie es schon gemerkt? Elektronische Kommunikationsmittel machen das Leben nicht nur bequemer, sondern auch gehetzter. In seinem Dokumentarfilm „Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ spürt Regisseur Florian Opitz („Der große Ausverkauf“) der weltumspannenden Rastlosigkeit nach. Im Interview erklärt der 39-Jährige, warum es höchste Zeit ist, den Ausstieg zu wagen.

vorwärts.de: Für Ihr globales Thema haben Sie einen sehr persönlichen Zugang gewählt.

Florian Opitz: Mein privates Zeitproblem war nur der Aufhänger. Viele Menschen fragen sich: Wo bleibt meine Zeit? Warum komme ich kaum noch zu dem, was wirklich wichtig ist? Als deren Stellvertreter habe ich mich auf die Suche gemacht. Es ist ein politischer Film.

Welche Konsequenzen haben Sie aus Ihren Recherchen gezogen?

„Du kannst nur ein Leben leben“: Dieser Satz des Zeitforschers Karlheinz Geißler klang mir in den Ohren. Verzicht kann auch Gewinn sein. Mittlerweile versuche ich, am Wochenende nicht mehr jede Mail zu lesen und bestimmte Telefonate abends nicht mehr anzunehmen. Ich habe mir Freiraum geschaffen. Seitdem bin ich innerlich total gelöst.

 Ist diese Abstinenz nicht gerade als freischaffender Künstler schwer durchzuhalten?

Das iphone ist mein Büro, es erleichtert vieles. Doch man darf sich von dem Gerät nicht den Alltag diktieren lassen. Ich glaube, dagegen bin ich immun.

„Speed“ vergleicht die Beschleunigung, für Sie die Gesellschaft sensibilisieren wollen, mit einer Sucht. Ist man dafür nicht ausschließlich selbst verantwortlich?

Ich weiß nicht, ob man das von jeder Sucht sagen kann. Von der Beschleunigung wohl aber schon. Anstatt sich um seine Familie zu kümmern, fingert man ständig am Smartphone oder Laptop herum. Das war vor zehn Jahren anders.

Wäre die Recherche zu Ausstiegsszenarien in Europa, Südamerika und Asien „entschleunigt“ überhaupt möglich gewesen?

Die Vorbereitungen liefen ein Jahr lang. Am Ende hatten wir 15 Geschichten. Recherche und Kommunikation waren nur durch Beschleunigungstools wie Flugzeug, Internet und Mobiltelefon möglich. Ich verdamme diese Technologien nicht grundsätzlich. Man muss sich nur bewusst werden, was sie mit einem machen.

Ein Aspekt der Beschleunigung ist die Zunahme an Möglichkeiten. Psychologen haben herausgefunden, dass es Konsumenten nicht als Bereicherung, sondern als belastend empfinden, zwischen 100 Joghurtsorten wählen zu können.

Wachstumsideologen wie die FDP suggerieren uns ständig: Je mehr Optionen, desto mehr Freiheit. Dem ist nicht so. Alles Mögliche ist ständig im Netz zugänglich. Das bindet unglaublich viel Energie und stellt einen jeden Tag vor eine Flut an Entscheidungen. Das sagt auch Geißler: Das Zeitraubende sind die Optionen. Man kann nicht mehrere, sondern nur ein Leben leben. Mir ist beim Drehen aufgefallen, dass vor allem die Leute, die auf all diese Möglichkeiten verzichten, glücklich sind.

Besonders eingeprägt hat sich mir die Geschichte des Aussteigers Douglas Tompkins. Der Gründer von Bekleidungsmarken wie „Esprit“ hat ganze Landstriche in Patagonien aufgekauft, um sie der Entschleunigung, also jeglicher industriellen Ausbeutung, zu entziehen. Im Film sagt er, Kameras und Laptops würden die Welt zerstören. Hat Sie diese Pointe getroffen?

Das ist ja nichts Neues. Ich habe mich dadurch nicht getroffen gefühlt. Auch Tompkins benutzt Computer und Kleinflugzeuge. Natürlich hat er recht: Diese kleinen Apparate mit einer Halbwertszeit von ein oder zwei Jahren beschleunigen unser Leben und Wirtschaften. Gleichzeitig rauben sie uns Arbeitsplätze und verschlingen Ressourcen. Diese Rückseite wird selten gesehen. Von allen Protagonisten hat mich Tompkins am meisten beeindruckt. Als Multimillionär war er ein privilegierter Aussteiger. Dennoch ist sein Ansatz ehrlich und radikal.

Die zunehmende Vernetzung folgt nicht nur ökonomischer Logik, sondern auch narzisstischen Trieben. Wie lässt sich dieser Wandel umkehren? Ihr Film lässt das offen.

Ich schwinge mich nicht zum Retter der Welt auf und habe keine Universallösung. Der Film soll zum Nachdenken anregen, indem er Fragen aufwirft: Woher kommt die individuelle Beschleunigung und das Erkranken daran? Hat das eine narzisstische Komponente? Das gilt wohl für die, die kaum reale Kontakte haben und sich virtuelle Freunde suchen. Die Beschleunigung betrifft auch die Politik. Sie lässt sich von einer Entscheidung zur nächsten hetzen, ohne das zu thematisieren. Weder der Einzelne noch die Gesellschaft redet noch über Ziele. Jeder rast vor sich hin, ohne zu wissen, wohin. Es ist Zeit, über Ansätze zur Entschleunigung zu diskutieren. Einige davon zeigt der Film.

Eines Ihrer Ausstiegsszenarien erleben wir am Beispiel des Königreichs Bhutan. Dessen Verfassung stellt das Glück der Bürger über die wirtschaftliche Entwicklung. Braucht Deutschland ebenfalls einen Minister für Bruttonationalglück? Mich erinnert die Bezeichnung an George Orwells „Ministerium für Liebe“.

Ich habe das zuerst für einen Marketing-Gag gehalten. Tatsächlich ist es ein ernsthafter Versuch, die Interessen der Bürger politisch umzusetzen. Das, was die Menschen zum Glück bringen soll, wird in Umfragen erhoben. Das ist für mich das Idealbild von Politik: Nicht die Interessen von Konzernen, sondern der einfachen Menschen prägen Regierungshandeln. Auch wir brauchen eine Institution, die darauf achtet, ob Politik dem Allgemeinwohl oder nur angeblichen Sachzwängen folgt. Der Finanzkapitalismus von heute ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Der computergesteuerte Aktienhandel hat sich dem menschlichen Ermessen entzogen. Vom Spiel der Algorithmen profitieren wenige, der Rest geht in die Knie. Milliarden von Menschen geben sich dem kapitalistischen System hin, ohne dessen Folgen zu hinterfragen. Das ist barbarisch.

Im Film bringen Sie immer wieder das umstrittene „bedingungslose Grundeinkommen“ ins Spiel. Würde das, zynisch betrachtet, nicht erst recht Tür und Tor zum blinden Konsum öffnen?

Es geht dabei nicht um üppiges Konsumieren, sondern um das Lebensnotwendige. Dazu gehört auch Teilhabe am kulturellen Leben. Die Debatte darüber ist ein Beispiel für jene gehetzte Augenwischerei: Jeder Politiker in Europa weiß, dass es nie wieder genügend Arbeitsplätze für alle geben wird. Trotzdem wird die Lohnarbeit immer noch als Grundlage für das Einkommen betrachtet. Genau die wird rund jedem zweiten Europäer künftig fehlen. Wir müssen nach Alternativen suchen. Es gibt genügend Arbeit, gerade im Bereich Bildung und Kinderbetreuung. Und es gibt genug Geld. Das Problem ist nur dessen Verteilung.

Die Kritik am Wachstumskult und daran, der Mensch lebe gegen seine Natur, ist so alt wie die Industrialisierung selbst. In welcher geistigen Tradition sehen Sie sich?

Jede Generation hat ihren Kulturpessimismus und ihre Beschleunigungskritik.

Heute haben wir einen Punkt erreicht, wo die Beschleunigung nicht mehr der Mehrheit zugute kommt, sondern als Belastung empfunden wird. Früher hieß es immer, die Kinder werden es einmal besser haben. Davon redet keiner mehr. Uns wird nur noch eingebläut, nicht abzurutschen.

Geht es nicht auch darum, dass die Entwicklung der Technik und die des Menschen immer weiter auseinanderdriftet?

Ja. Die Technikversessenheit und die Beschleunigung sind außer Kontrolle geraten. Wir sehen nur deren angenehmen Seiten.

Ist das Motto „Zeit ist Geld“ wirklich aus den Köpfen zu tilgen?

Dieses Motto gibt das System vor. Also muss man die Systemfrage stellen: Ist dieser Finanzkapitalismus überlebensfähig? Wir täten gut daran, an Alternativen zu denken. Mit diesem System fahren wir gegen die Wand.

 

Info: Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (D 2012), Buch und Regie: Florian Opitz, 97 Minuten.  Ab sofort im Kino

 

 

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