Kultur

Wie Willy Brandt ganze Politiker-Generationen geprägt hat

Vor 50 Jahren wurde Willy Brandt zum ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler gewählt. Dieser wichtige Moment der deutschen Nachkriegsgeschichte ist am Sonntag mit einer Matinee in Brandts ehemaliger Schule in Lübeck gewürdigt worden.
von Ulf Buschmann · 21. Oktober 2019
„Raus aus der Filterblase.“ Schleswig-Holsteins SPD-Vorsitzende Serpil Midyatli erinnerte an Willy Brandt und appellierte an ihre Partei.
„Raus aus der Filterblase.“ Schleswig-Holsteins SPD-Vorsitzende Serpil Midyatli erinnerte an Willy Brandt und appellierte an ihre Partei.

Plötzlich war die „Fridays for Future“-Bewegung da. Wie aus dem Nichts. Und die Politik hatte keine Antwort darauf. Doch es geht auch anders, und einer hat es vorgemacht: Willy Brandt, Bundeskanzler, Vorsitzender und Ehrenvorsitzender der SPD. Sein Rezept: Auf die Menschen zugehen, zuhören, Strömungen und Stimmungen aufnehmen, Veränderungen in der Gesellschaft registrieren. „Raus aus der Filterblase“, bringt es Serpil Midyatli auf einen griffige Formel. Die schleswig-holsteinische SPD-Landesvorsitzende wünscht sich, dass sich die Partei und ihre Mitglieder auch oder gerade wegen schwieriger Zeiten auf ihre Stärken besinnt: „Wieder miteinander reden,“ fordert sie.

Für ihre Motivationsrede bekommt Midyatli viel Zustimmung. Sie ist an diesem Sonntagvormittag eine von drei Festrednern im Johanneum zu Lübeck. In dieser Schule machte Willy Brandt im Jahr 1932 sein Abitur – damals noch unter seinem Geburtsnamen Herbert Frahm. 87 Jahre später haben Willy-Brandt-Haus und die SPD Lübeck sowie das Kulturforum Schleswig-Holstein zu einer Matinee eingeladen. Denn vor 50 Jahren, am 21. Oktober 1969 wurde Willy Brandt zum ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Daran erinnern auch Lübecks Bürgermeister Jan Lindenau und der ehemalige Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein, Björn Engholm.

Sozial-liberal war nicht selbstverständlich

Dass die Kanzlerschaft des gebürtigen Lübeckers 20 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik die große Zeitenwende überhaupt einläuten würde, wünschten sich damals vor allem die jungen Menschen. Aber dass diese mit politischen und gesellschaftlichen Liberalisierungen im Strafrecht, im Familienrecht und im Wahlrecht eintreten würde, ist heute unbestritten. Gleiches gilt für die Arbeitnehmerrechte.

Denn es hätte auch anders kommen können. Das macht Bettina Greiner, Leiterin des Willy-Brandt-Hauses, klar. „Sozial-liberal war damals nicht selbstverständlich.“ Wahrscheinlich sei das Land heute ein anderes, wenn es die NPD wirklich in den Bundestag geschafft hätte. Dazu fehlten nur wenige Prozentpunkte. Auch die Mehrheit, auf die sich Willy Brandt stützte, sei nicht sehr groß gewesen. Greiner fasst die Ausgangslage für Willy Brandt so zusammen: „Kleine Mehrheit, große Visionen.“

Freudentränen in den Augen

Björn Engholm nickt bei diesen Worten zustimmend. Ihm und anderen hartgesottenen Jusos hätten bei der Bekanntgabe des Wahlergebnisses Freudentränen in den Augen gestanden. Nachdem sich über Jahre ein konservativ geprägter Mehltau über das Land gelegt hatte, sei es den Sozialdemokraten gelungen, etwas anzuschieben, was die jungen Menschen bewegte, meint Engholm. Er spricht unter anderem die Öffnung des Bildungssystems mit dem Ausbau der Universitäten und Hochschulen, der Einführung des Bafög und die Reform der Ausbildungsordnung an.

Engholm selbst habe Willy Brandt als „zutiefst menschlich“ erlebt: „Er war einer, dem sein Sein mehr wert war als der schöne Schein.“ Um etwas zu bewegen, habe Willy Brandt kluge Leute in Team geholt, statt sie auszubooten. Darunter seien bisweilen auch bunte Vögel gewesen. Der große Sozialdemokrat sei Visionen verpflichtet gewesen, habe aber nie die Realität verachtet. Und der heutigen Politik(er)-Generation gibt Engholm am Beispiel des Verhältnisses von Willy Brandt, Herbert Wehner und Helmut Schmidt mit auf den Weg, wie es gehen sollte: Die Drei hatten zwar immer ein schwieriges Verhältnis zueinander, doch es sei ihnen am Ende immer um die Sache gegangen.

Standhaft sein und zu seinen Überzeugungen stehen

Einer der jungen Sozialdemokraten, die Willy Brandt noch persönlich erlebten, ist Lübecks Bürgermeister. Der Moment war nur kurz, doch Willy Brandt und sei Politikverständnis ist heute noch aktuell – bei Beteiligungsprozessen zum Beispiel. „Man muss immer wieder deutlich machen, warum und wie man handelt“, sagt Jan Lindenau. Die sei das Problem der Sozialdemokratie: Die Partei mache nicht klar, „was sie im Grundsatz fordert.“

Lindenau fordert die Partei auf so zu sein, wie es Willy Brandt vorlebte: Standhaft sein und zu seinen Überzeugungen stehen. Heute werde die politische Fahne zu schnell in den Wind gedreht. Sei etwas nicht nach zwei oder drei Jahren erreicht, werde das Thema zur Seite gelegt. Ebenso habe Willy Brandt nicht gleich seinen eigenen Gestaltungswillen abgegeben, wenn etwas schief gelaufen war. „Wenn man Fehler gemacht hat und man steht dazu, nehmen es die Leute einem nicht krumm“, wirbt er für die Besinnung auf Willy Brandt.

Dieses sei auch deshalb wichtig, weil sich der Blick der jungen Leute auf die Politik verändere. Ihnen müsse gezeigt werden, was Willy Brandt wollte – und was sie alles nicht hätten, hätten die Sozialdemokraten unter ihrem Bundeskanzler nicht die gesellschaftlichen Koordinaten geändert. Zum Schluss sollen die Botschaften von Willy Brandt andere Menschen erreichen – und das ganz analog: Die Besucher können Karten mit Zitaten des großen Sozialdemokraten verschicken.

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Ulf Buschmann
Ulf Buschmann

arbeitet als freier Journalist in Bremen.
 

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