Kultur

„Wie viel Kraft muss in diesem Menschen gesteckt haben?“

von Fréderic Verrycken · 10. März 2006

Überhaupt sind die zahlreichen Parallelen in den Lebenswegen der beiden Staatsmänner beachtlich. Beispielhaft zu nennen: die gemeinsame Geburtsstadt Lübeck, die fehlende Vaterfigur, ihr Engagement in politischen Splitterparteien bevor beide in die SPD eintraten, die Ablehnung des Nazi-Regimes und ihr wieder entflammtes politische Engagement nach 1945.

Beide Politiker waren Menschenfischer im besten Wortsinne. Sie hatten ein Charisma, das niemand sich aneignen kann, sondern das einigen wenigen Menschen in die Wiege gelegt wird. Die Familie musste zugunsten des politischen Geschehens zurückstehen, Trennungen inbegriffen.

Lüdemanns politischem Werdegang widmet Fischer sein Hauptaugenmerk. Nur wenige Politiker haben auf so verschiedenen politischen Bühnen agiert wie er. Im Kaiserreich engagierte sich Lüdemann in der linksliberalen Partei "Demokratische Vereinigung", wechselte aber alsbald zur SPD.

In den Revolutionswirren der Jahre 1918/1919 wurde der Wilmersdorfer Stadtverordnete - Rudolf Breitscheid war einer seiner Banknachbarn - Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrats, später dann vertrat er die SPD im preußischen Landtag, wurde preußischer Finanzminister und bis zu Papens "Preußenschlag" Oberpräsident von Schlesien. Unter den Nationalsozialisten gedemütigt und in Konzentrationslager gesteckt, hielt er Kontakt zur inneren Opposition um Julius Leber und Carlo Mierendorff. Sein Engagement für die Widerstandsgruppe des 20. Juli brachte ihn vor Freislers Volksgerichtshof und erneut ins KZ. Er überlebte das Lager und den Todesmarsch der Häftlinge von Sachsenhausen.

Mit ungebrochenem Elan engagierte sich für die zweite deutsche Demokratie

Direkt nach dem Krieg setzte Lüdemann sein politisches Engagement fort. Der Kampf um die Demokratie blieb für ihn bis Lebensende prägend. Von 1946 bis 1958, ein Jahr vor seinem Tod, war er Mitglied des Landtages von Schleswig-Holstein und zog in die Regierung ein. Als erster frei gewählter Ministerpräsident seines Landes war er an der Erarbeitung des Grundgesetzes beteiligt, dessen Unterschrift sie auch trägt.

"Sein Elan aber konnte nie gebrochen werden", hält Rolf Fischer in seiner Biographie fest und fragt: "Wie viel Kraft muss in diesem Menschen gewesen sein, der nach KZ und Verfolgung, Demütigung und körperlicher Schwächung sofort die Verwirklichung der Demokratrie in Deutschland vorantrieb?" Wer Herrmann Lüdemann und seinen Beitrag zur Begründung der deutschen Demokratie besser verstehen will, kommt an dieser fundierten Biographie nicht vorbei.



Rolf Fischer: Hermann Lüdemann und die deutsche Demokratie, Wachholtz Verlag, Neumünster 2006, 208 Seiten. ISBN: 3-529-06140-9, 19,90 Euro

Autor*in
Fréderic Verrycken

Chefredakteur der DEMO, Fraktionsvorsitzender der SPD in der Bezirksverordnetenversammlung Berlin Charlottenburg-Wilmersdorf

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